IM INTERVIEW: MARTIN LÜCK, BLACKROCK

"Die Märkte preisen die beste aller Welten ein"

Chefstratege: Es wird keine V-förmige Erholung der Wirtschaft geben - Noch negative Überraschungen zu befürchten

"Die Märkte preisen die beste aller Welten ein"

Der BlackRock-Experte Martin Lück hält die starke Erholung an den Aktienmärkten bis zu einem gewissen Grad für berechtigt. Allerdings gilt dies nach Meinung des Chief Investment Strategist für Deutschland, Schweiz, Österreich und Osteuropa von BlackRock nur unter dem Vorbehalt, dass es zu keiner zweiten Infektionswelle und nicht zu einem weiteren Lockdown kommt. Auch ohne neuerlichen Lockdown ist seiner Einschätzung jedoch nicht mit einer V-förmigen Erholung der Wirtschaft zu rechnen. Herr Lück, die Aktienmärkte haben sich sehr deutlich vom Corona-Crash erholt. Sind die Marktteilnehmer zu zuversichtlich, oder ist das durch die Realität gedeckt?Die Rally kann man unter der Prämisse rechtfertigen, dass wir keine zweite Infektionswelle bekommen. Sie steht somit unter dem Vorbehalt eines bestimmten Infektionsverlaufs. Wenn es keine zweite Welle gibt, wird sich die Wirtschaft graduell erholen. Allerdings preisen die Märkte die beste aller Welten ein, nämlich dass sich die Wirtschaft relativ bald normalisiert und sich auch die Unternehmensgewinnentwicklung relativ zügig normalisieren wird. Und wird es schnell gehen?Ich glaube, dass sich die Erholung auch im Fall des Ausbleibens einer zweiten Welle hinziehen wird. Es wird keine V-förmige Erholung geben, auch wenn die Wirtschaft nun hochgefahren wird. Vielmehr werden wir lange mit angezogener Handbremse fahren. Die Lücken, die der Lockdown gerissen hat, können nicht so schnell geschlossen werden. Zudem ist zu befürchten, dass es noch negative Überraschungen geben wird, auch durch Zweitrundeneffekte etwa in Form steigender Arbeitslosenzahlen und zunehmender Insolvenzen. Letzteres würde zudem mehr Kreditausfälle bei den Banken bedeuten. In der Berichterstattung zum ersten Quartal haben wir bei den Banken bereits erhebliche Wertberichtigungen für Insolvenzen gesehen. Viele der Dinge, die wir in den USA gesehen haben, müssen wir vermutlich auch in Europa erwarten. Halten Sie also Rückschläge für wahrscheinlich?Die Marktteilnehmer wissen, dass die Unternehmensgewinne nach unten gerichtet und die Bewertungen hoch sind. Das gleitende Zwölf-Monats-KGV des S&P 500 liegt erstmals seit 18 Jahren über 20. Allerdings sind die Marktteilnehmer bereit, diesen Optimismus einzupreisen, wenn die Wirtschaft graduell wieder nach oben geht. Wenn jedoch eine zweite Welle kommen sollte, würde ein neuer Lockdown drohen. Darauf würden die Aktienmärkte empfindlich reagieren. Denn die Hoffnungen auf ein Wiederhochfahren der Wirtschaft müssten dann revidiert werden. Was empfehlen Sie Investoren bezüglich der Positionierung?Aktien sind in diesem sehr unsicheren Umfeld so beliebt, weil die Zentralbanken die Märkte so großzügig mit Liquidität versorgt haben und die Zinsen so stark gesunken sind. Dadurch sind Aktien ein Stück weit alternativlos. Wir raten, in einem derart schwierigen Umfeld wie dem aktuellen selektiv zu sein. Zu bevorzugen sind Unternehmen mit guten Geschäftsmodellen und Qualität auch in der Bilanz. Ferner ist auch darauf zu achten, ob Sektoren künftig stärker reguliert zu werden drohen oder ob sie von großen Megatrends profitieren werden. In welchen Bereichen bestehen Ihrer Einschätzung nach Regulierungsrisiken?In erster Linie in Branchen, in denen sich bereits in der Vergangenheit eine stärkere Regulierung abgezeichnet hat. Hier wirkt die Coronakrise wie ein Beschleuniger. Im Fokus stehen hier die ESG-Kriterien beziehungsweise Unternehmen, die gewisse Umwelt- und Sozialstandards nicht einhalten. Übergewichten würden wir Werte, bei denen diese Kriterien erfüllt sind. Kommt da also etwas, was wir derzeit hierzulande in den Schlachthöfen sehen? Die sozialen Missstände sind seit Jahren bekannt, aber erst jetzt in der Coronakrise scheint die Politik ernsthaft etwas dagegen unternehmen zu wollen.Das ist ein gutes Beispiel. Es stellt sich doch die Frage, wie es sein kann, dass das Fleisch im Einzelhandel so billig ist. Das kann nur durch niedrige Sozialstandards möglich sein. Nun könnten wir hier zu einer Verbesserung kommen. Niemand will, dass Menschen so arbeiten müssen und Tiere so behandelt werden. Es ist eine positive Wirkung der Krise, dass bessere Standards in diesem Bereich nun auf den Tisch kommen. Es gibt eine Diskussion über Negativzinsen in den USA und Großbritannien. Halten Sie das für möglich?Diese werden wahrscheinlich kommen, sofern die Märkte sie noch längere Zeit einpreisen. Auch in der Vergangenheit konnten sich die Zentralbanken nicht allzu lang gegen die Kraft der Märkte stemmen. Dass auch der amerikanische Fed-Zins in den Negativbereich geht, würde ich nicht mehr ausschließen, weil es für die Notenbanken müßig wird, sich gegen etwas zu stemmen, was der Markt erwartet. Ich würde die Wahrscheinlichkeit mit mehr als 50 % ansetzen, auch wenn es keine ausgemachte Sache ist. Wenn sich die Wirtschaft weiter abschwächt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Fed in den negativen Bereich geht. Was bedeutet das für Staatsanleihen? Sind die Kurse noch gut unterstützt?Unserer Einschätzung nach sehen die Kurse noch gut unterstützt aus. Es gibt im Markt noch Potenzial. Allerdings bleibt abzuwarten, was geschieht, wenn Anleihen immer weniger ihre Funktion als Ballast im Portfolio erfüllen. Wenn sich die Zinsen immer mehr der Null-Prozent-Marke annähern oder in den negativen Bereich gehen, kommt eine Situation, in der Anleihen diese Funktion nicht mehr erfüllen können. Je tiefer die Zinsen sinken, desto weniger können Anleihen steigen, während Aktien fallen. Die abfedernde Wirkung fehlt dann, und es wird unattraktiv, Treasuries zu halten. Ist Gold in dem aktuellen Umfeld und nach dem deutlichen Preisanstieg eine attraktive Anlage?Gold ist eine interessante Asset-Klasse, weil dort derzeit mehrere Treiber zusammenkommen. Gold dient nicht nur zur Absicherung gegen Inflation. Es ist auch eine Währung für unsichere Zeiten. Außerdem ermöglicht es eine Absicherung gegen hohe Volatilität. Zudem hat die Nachfrage nach physischem Gold angezogen. Die Sparquoten könnten nach Covid-19 höher sein als vor der Pandemie. In China liegt sie bei 40 % und könnte weiter steigen. Die Konsumenten haben automatisch mehr gespart, weil sie durch den Lockdown deutlich weniger Geld ausgeben konnten. Ein großer Treiber könnte sein, dass die Chinesen und Menschen in anderen Ländern mehr zum Werterhalt zurücklegen. Chinesen halten ohnehin traditionell einen Teil ihrer Ersparnisse in Gold, und das Streben nach Werterhalt in diesen unsicheren Zeiten könnte das verstärken. Unserer Einschätzung nach wird Gold in den nächsten Quartalen und wahrscheinlich auch Jahren im Wert zulegen. Gehen von den USA, insbesondere den unberechenbaren und teils kaum noch nachzuvollziehenden Aktionen Donald Trumps Risiken für die Märkte aus?Meiner Meinung nach haben die Finanzmärkte in den zurückliegenden Jahren gelernt, sich ein Stück weit von der Unberechenbarkeit der amerikanischen Politik zu emanzipieren, etwa von der Eskalation der Spannungen mit China, den Drohgebärden gegen Russland und so weiter. Man weiß, dass Trump nur ein einziges echtes Interesse hat, nämlich wiedergewählt zu werden. Er muss seine Wählerbasis bedienen, die zu einem großen Teil nach einfachen Antworten verlangt. Auch Trump ist in seinen Ansichten zum Teil recht einfach. Beispiele sind seine Vorstellung, dass man zu Bekämpfung Desinfektionsmittel verabreichen sollte, oder seine Befürwortung der Nutzung von Chloroquin zur Behandlung von Covid-19, das er ja seit neuestem entgegen dem Rat der Experten selbst einnimmt. Ich glaube, dass die Märkte nicht jedes Wort von Trump auf die Goldwaage legen. Zudem dürfte auch eine gewisse Abstumpfung entstanden sein. Das soll natürlich nicht heißen, dass Trumps Aktionen komplett irrelevant sind. Schließlich könnten sich die gegen China gerichteten Aktivitäten negativ auf den Welthandel auswirken. Könnte die Krise eventuell Folgen haben, die langfristig, das heißt auch nach ihrer Überwindung Bestand haben?Es ist sehr wahrscheinlich, dass wir langfristige Verhaltensveränderungen haben werden, die beispielsweise die Luftfahrt und die Gastronomie betreffen werden. Es könnte sein, dass viele Menschen künftig ihre Reiseaktivität reduzieren und seltener in Restaurants gehen, obwohl die Pandemie überwunden ist. Das sind Veränderungen, die in den Prognosen noch überhaupt nicht enthalten sind. Das Interview führte Christopher Kalbhenn.