Luft in Dosen: Über Kryptowährungen
Von Pascal Spano*)
Wer kleinere Kinder oder ein gutes Gedächtnis hat, kennt Schlemihl aus der Sesamstraße. Eine leicht dubios daherkommende Figur im langen Trenchcoat, der arglosen Mitmenschen Dinge von zweifelhaftem Wert verkauft. Zum Beispiel Luft in Dosen oder unsichtbares Eis. Besonders erfolgreich ist er damit, weil er seiner Ware stets den Nimbus des Geheimnisvollen und Exklusiven verleiht. Wer bei ihm kauft, gehört zu den wenigen, die den wahren Wert erkennen.
Wer Kinder im Teenageralter oder einen sonstigen Bezug zur Jugendsprache hat, der kennt FOMO. Die „fear of missing out“ ist die mal mehr, mal weniger stark ausgeprägte Angst, als womöglich einziger etwas vermeintlich ganz Tolles zu verpassen. Zum entgangenen Gewinn (an Lebensfreude) gesellt sich hierbei noch das Gefühl, etwas falsch gemacht oder gar versagt zu haben.
Die modernen Verführer
Ist in der Sesamstraße häufig allein Ernie der Leidtragende, finden die modernen Schlemihle dank Social Media und anderen nach Klicks gierenden Medien ideale Multiplikatoren für ihre Botschaft des vorgeblich mühelosen Reichtums. Fügt man der Gleichung noch Minuszinsen, hohe Liquidität, eine Heerschar unerfahrener Marktteilnehmer, einfachen elektronischen Handelszugang und eventuell noch etwas lockdownbedingte Langeweile hinzu, ist das Finanzmarktfeld bestellt für Auswüchse aller Art. Das ist so lange kein Problem, wie die Spieler in diesem Markt wissen, worauf sie sich einlassen. Jedem geschäftsfähigen Menschen sei es unbenommen, sich in Spielcasinos, bei Sportwetten oder eben im Handel mit Kryptowährungen umzutun. Es sollte nur klar sein, worum es hierbei geht: um ein Spiel mit ganz wenigen Gewinnern und sehr, sehr vielen Verlierern.
Gefährlich für Anleger wird es immer dann, wenn die Grenzen zwischen Spekulations- und Anlageobjekt verwischen. Das geschieht nicht zufällig. So werden alle möglichen Coins auf den verschiedensten Plattformen gehandelt. Die Wirtschaftspresse reiht Krypto-„Assets“ wie selbstverständlich in den Kanon der Börsenberichte ein und überschlägt sich mit Meldungen, wie viele Milliarden der nächste Coin jetzt angeblich „wert“ sei. Zudem entstehen auf diesem Gebiet Fonds und Derivate sowie börsennotierte Unternehmen, die Namen und Narrativ regelmäßig dem Zeitgeist anpassen und auf der Basis luftigster Versprechungen reichlich echtes Geld am Aktienmarkt einsammeln.
Jeder Schritt in die reale Finanzwelt, sei es die Zulassung zum Handel an regulären Terminbörsen oder die mögliche Zulassung eines Krypto-ETF, wird als Legitimation des Ganzen von den Verkäufern frenetisch gefeiert. Gleichzeitig bringt die neue Verpackung den toxischen Inhalt näher an Anlegergruppen, die den Weg ins Online-(Krypto-)Casino vermutlich nicht gegangen wären.
Die Wert-Fata-Morgana
In den letzten Wochen war überall zu lesen, der „Dogecoin“ sei jetzt rund 50 Mrd. US-Dollar wert – und damit in etwa so viel wie beispielsweise Ford oder eine Reihe von Dax-Konzernen. So weit, so gut. Nur – was bedeutet in diesem Zusammenhang eigentlich „Wert“? Bei besagtem Dogecoin handelt es sich, ausweislich Wikipedia, um die Erfindung zweier Programmierer, die einem zum Internetphänomen gewordenen niedlichen Hündchen ein Denkmal setzen wollten. Taugt das als Wertaufbewahrungsmittel? Wer bei dieser Frage zögert, der möge überlegen, ob er sein Gehalt und seine künftige Rente ausschließlich in einer heute festzulegenden Anzahl von Dogecoins erhalten möchte.
Übertragen auf das Beispiel aus der Sesamstraße kann Schlemihl für eine Dose Luft jeden beliebigen Preis verlangen. Er muss nur einen Käufer finden. Dieser Käufer wiederum muss sich über den Preis wenig Gedanken machen, solange er weiß (oder hofft), diese Dose Luft einem Dritten zu einem höheren Preis weiterverkaufen zu können. Hierfür braucht es gutes Marketing – und FOMO. Und an dieser Stelle wird der Unterschied zwischen Anlagegütern mit intrinsischem Wert und Spekulation sehr sichtbar.
Betriebswirtschaftlich aufgearbeitet käme jetzt der Exkurs zu Angebots- und Nachfragetheorien, Gleichgewichts- und Grenzpreisen, Informationsasymmetrien und Verkaufspsychologie. Manchmal bringen es einfache Beispiele aber klarer auf den Punkt.
Nahezu der gesamte Markt für Kryptowährungen lässt sich ganz ausgezeichnet mit der „Greater-Fool-Theory“ erklären. Hiernach ist der Wert eines Gutes dadurch definiert, was der „Nächstdümmere“ dafür zu zahlen bereit ist. Diesen Nächsten zu finden ist genau das, was langfristig alle sogenannten Multi-Level-Marketingsysteme zu Fall bringt. Die wenigen am Anfang der Kette oder an der Spitze der Pyramide machen ihren Schnitt. Für die große Menge am Ende kommt das böse Erwachen, wenn die Marketing-Maschinerie einmal verstummt und sich kein Käufer mehr findet. Denn mit dem Wegfall der Grenznachfrage für ein Gut kann sich der vermeintliche Wert unmittelbar in Luft auflösen.
Das Konzept und die Technologie echter digitaler Währungen sind absolut sinnvoll, und es ist nachvollziehbar, wenn Zentralbanken erste Schritte in diese Richtung gehen. Der Zeitpunkt, an dem digitales Geld diesen Namen erstmals verdient, liegt allerdings noch vor uns. Bis dahin sind langfristig orientierte Anleger gut beraten, die Marktschreier in der Kryptoblase einfach zu ignorieren.
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