Unterm Strich

Mehrstimm­rechtsaktie wäre ein Irrweg

Die Wiedereinführung von Mehrfachstimmrechten würde die Fortschritte in der Governance und Kontrolle von Unternehmen durch die Aktionäre aufs Spiel setzen.

Mehrstimm­rechtsaktie wäre ein Irrweg

Man stelle sich vor, der ehemalige Wirecard-Chef Markus Braun hätte vor dem Untergang des Unternehmens trotz seines umfänglichen Verkaufs eigener Aktien aufgrund von Mehrfachstimmrechten das Sagen behalten – und den Tag der Wahrheit noch weiter hinauszögern können. Diesem Gedankenspiel sollten sich Bundesjustizminister Marco Buschmann, Bundesfinanzminister Christian Lindner, die EU-Kommission und all die anderen unterziehen, die aktuell der Einführung von Mehrfachstimmrechten in Deutschland und der EU das Wort reden. So wünschenswert die Kapitalmarktunion in der EU auch ist, so wenig heiligt das Ziel der Förderung des Kapitalmarktes alle Mittel. Die von der EU-Kommission geplante Richtlinie zu Mehrstimmrechten für Unternehmen, die ihre Aktien an einem Wachstumsmarkt für KMU handeln lassen wollen, wäre ein Rückschritt im jahrelangen Kampf für Aktionärsrechte und bessere Governance. Dasselbe gilt für ähnliche Regelungen im Zukunftsfinanzierungsgesetz, mit dem die Bundesregierung die Finanzierung der Transformation durch den Kapitalmarkt erleichtern will.

Es hat gute Gründe gegeben, die einst auch in Deutschland als Schutz vor „Überfremdung“ eingeführten Mehrstimmrechte abzuschaffen. Und es gibt noch mehr Gründe heute, sie nicht wieder einzuführen. Denn viele der geltenden Aktienrechtsbestimmungen und Governance-Regeln sind Reaktionen auf Un­ternehmenspleiten und Schieflagen, deren Ursache fehlende Kontrolle durch die Eigentümer war – sei es in den Hauptversammlungen, sei es im Aufsichtsrat. Wenn nun durch Mehrstimmrechte für Gründer und Alteigentümer von Wachstumsunternehmen ein Börsengang attraktiver gemacht werden soll, wäre das gerade für die Governance dieser jungen Börsenunternehmen und allgemein auch für die Aktienkultur ein schwerer Schaden.

Es stimmt zwar, dass in anderen Ländern Mehrfachstimmrechte möglich und vor allem bei Wachstumsunternehmen in Mode sind. Insbesondere in den USA haben sich bei Börsengängen von Tech-Unternehmen seit den 2000er Jahren solche Dual Class Shares etabliert. Sie sichern den Gründern Einfluss über ihren Kapitalanteil hinaus. Die Erfolgsgeschichten von Firmen wie Facebook/Meta, Google oder Tesla mögen scheinbar für die Bevorzugung der Firmengründer über Mehrfachstimmrechte sprechen. Sie sind andererseits Beispiele dafür, wie nah Genie und Wahnsinn beieinander liegen und wie leicht der Wahn Überhand gewinnen kann. Gerade aufgrund vieler negativer Erfahrungen mit schädlichen Folgen nicht allein für die Mitaktionäre, sondern für die Gesellschaft insgesamt ist bei Unternehmen der Einfluss der Stakeholder gestärkt und das System von Checks and Balances ausgebaut worden. All diese Erfolge zu schleifen, nur um hierzulande ein wenig öfter die Börsenglocke bei einem IPO läuten zu können, darf nicht das Ziel einer Kapitalmarkt- und Aktienrechtsreform sein.

Im Aktienrecht wurden Mehrfachstimmrechte 1965 zunächst einschränkt und 1998 mit dem Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG) endgültig abgeschafft. Bis dahin hatten Mehrfachstimmrechte teils groteske Auswüchse. Mancher erinnert sich vielleicht an RWE, wo die kommunalen Aktionäre mit ihrem mehrfachen Stimmrecht wichtige Entwicklungen blockierten und dafür sorgten, dass der Versorger gegenüber dem Eon-Vorgänger Veba an der Börse mit großem Abschlag gehandelt wurde. Seit nunmehr einem Vierteljahrhundert gilt „One share – one vote“, wobei in Deutschland ja gewisse Umgehungsmöglichkeiten durch stimmrechtslose Vorzugsaktien oder die Rechtsform der KGaA existieren.

Expertise und Liquidität

Zweifelsohne ist es für manche Unternehmensgründer und Alteigentümer nicht leicht, im Zuge eines Börsengangs das Unternehmen aus der Hand zu geben oder zumindest die Kon­trolle zu teilen. Das gilt vor allem, wenn sie vorher in der Rechtsform einer GmbH das alleinige Sagen hatten. Doch oft ist die Kontrolle faktisch schon vorher eingeschränkt worden, sei es durch Mitsprache von Banken bei der Fremdfinanzierung des Wachstums oder durch Venture-Capital-Geber oder Private-Equity-Investoren. Wer Risikokapital gibt, muss und sollte auch Kontrolle haben.

Dass in Deutschland gegründete Start-ups oft ihre weitere Finanzierung und den Börsengang außer Landes suchen, hat weniger mit den gesellschafts- rechtlichen Rahmenbedingungen zu tun als mehr mit steuerlichen Anreizen sowie der Expertise und Tiefe des jeweiligen Kapitalmarktes. Es gibt empirische Untersuchungen darüber, dass die steuerliche Behandlung von Investitionen in Start-ups eine große Rolle für Standortentscheidungen spielt. So ist es kein Zufall, dass sich mit Nasdaq First North, AIM Italia oder AIM UK schnell wachsende Börsenplätze für KMU in Ländern befinden, die Steueranreize für Investments in börsennotierte KMU bieten. Studien haben gezeigt, dass die Expertise und Spezialisierung von Investoren über die Frage entscheidet, an welcher Börse ein IPO erfolgt. Da es in den USA viele auf Biotechnologie und Pharma spezialisierte Investoren gibt, die demzufolge höhere Bewertungen von Unternehmen ermöglichen, die oft noch keinen Umsatz erzielen, entscheiden sich Firmen dieser Branche für den Börsengang in den USA, und zwar unabhängig vom ursprünglichen Firmensitz. Deutsche Beispiele sind Biontech und Curevac. Und die britische Finanzaufsicht FCA hat in einer Primärmarktanalyse festgestellt, dass Großbritannien für Unternehmen aus dem Rohstoffbereich besonders attraktiv ist. Entsprechend sollte die Bundesregierung Anreize schaffen, um für Unternehmen aus dem Bereich der Umwelttechnologie und er­neuerbaren Energien „the place to be“ für Börsengänge zu werden. Das wäre weitaus zielführender als die Möglichkeit zu Mehrstimmrechtsaktien.

c.doering@boersen-zeitung.de

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