IM INTERVIEW: JEAN-CLAUDE TRICHET

"Den Präsidenten anzugreifen ist nicht korrekt"

Der frühere EZB-Chef über die deutsche Kritik an seinem Nachfolger, höhere Löhne in Deutschland, die Lage Europas und Ideen für eine neue Währungsordnung

"Den Präsidenten anzugreifen ist nicht korrekt"

– Herr Trichet, sind Sie froh, dass Sie nicht mehr Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) sind und deswegen nicht mehr so umstrittene Maßnahmen beschließen müssen wie Ihr Nachfolger Mario Draghi mit breiten Staatsanleihenkäufen (Quantitative Easing, QE) und Negativzinsen?Meiner Ansicht nach sind acht Jahre Amtszeit richtig, und es ist gut, dass sie nicht verlängert werden kann. Aber ich würde keinesfalls sagen, dass ich glücklich bin, nicht mehr EZB-Präsident zu sein. Ohne Frage ist das eine herausfordernde Aufgabe, und es gilt, komplexe und schwierige Entscheidungen zu treffen. Die EZB hat alle Verantwortlichkeiten wie die US-Notenbank Fed und andere wichtige Zentralbanken, und darüber hinaus steht die EZB inmitten von Europas entstehender Geschichte. Aber diese Aufgabe ist außergewöhnlich inspirierend – zumal mit der Überzeugung, zu einem historischen Projekt beizutragen. Diese Überzeugung teilen der EZB-Rat und die Mitarbeiter der EZB.- Draghi hat nach der letzten Zinssitzung erklärt, Sie hätten gesagt: “Ich hätte alles genauso gemacht wie Mario.” Wirklich?In der Tat habe ich gesagt: “Ich hätte alles genauso gemacht wie Mario, zusammen mit dem EZB-Rat.” Denn alle Entscheidungen sind kollegiale Entscheidungen des Rats. Den Präsidenten anzugreifen ist nicht korrekt.- Aber hat die EZB ihr Mandat nicht überdehnt oder gar überschritten, etwa mit der Entscheidung für das Staatsanleihenkaufprogramm OMT, also für den selektiven Kauf von Staatspapieren im Notfall?Nein, die EZB hat ihr Mandat sicher nicht überdehnt. Das vorrangige Mandat ist klar: Preisstabilität, definiert als eine mittelfristige Inflationsrate von unter, aber nahe 2 %. Seit dem Start des Euro hat die EZB das sehr viel besser erreicht, als es die meisten Beobachter erwartet hatten. Darauf war ich selbst immer sehr stolz. Zum jetzigen Zeitpunkt sind nahezu alle entwickelten Volkswirtschaften konfrontiert mit einer neuen, ungewöhnlichen, großen Gefahr: eine sehr niedrige Inflation für einen sehr langen Zeitraum, was das Risiko einer Deflation birgt. Was der EZB-Rat jetzt tut, ist in diesen absolut außergewöhnlichen Zeiten vollkommen angemessen. Zugleich gilt es aber zu betonen, dass die Zentralbank nicht “the only game in town” ist und nicht sein darf.- Dass sie also nicht der einzige handlungsfähige Akteur sein darf.Ja, die EZB kann nicht alle Probleme lösen – und es gibt jede Menge. Das wichtigste Problem ist aktuell das geringe Potenzialwachstum des Euroraums. Auch deswegen droht eine Entankerung der Inflationserwartungen. Es liegt aber nicht in den Händen der Zentralbank, Strukturreformen entschlossen anzugehen, um das Potenzialwachstum zu erhöhen – das liegt vollkommen in den Händen der Regierungen, der Parlamente und der Sozialpartner.- Aber wenn die EZB stets so viel tut, mindert das doch den Anreiz für Reformen, oder?Das ist eine permanente Gefahr in allen entwickelten Volkswirtschaften. Deswegen ist die Botschaft der EZB, vor allem durch die Stimme von Mario Draghi, heute laut und klar, so wie sie es in der Vergangenheit war. Nehmen Sie das Beispiel des Stabilitäts- und Wachstumspakts: Als EZB-Präsident habe ich früh gewarnt, als Deutschland und Frankreich, unter der Ratspräsidentschaft Italiens, den Pakt 2003 und 2004 erstmalig verletzt haben. Als Konsequenz daraus hatten wir in vielen Ländern ein sehr schlechtes fiskalisches Management. Dieser Bruch der Fiskalregeln hat eine Krise ausgelöst, und wir zahlen dafür noch heute einen sehr hohen Preis in Sachen Wachstum und Jobs. Als EZB-Präsident habe ich zudem seit 2005 vor den anhaltenden Divergenzen zwischen nationalen Arbeitskosten und nationaler preislicher Wettbewerbsfähigkeit gewarnt. Das war nicht unter Kontrolle und stand auch im Zentrum der Staatsschuldenkrise.- Aber gerade wenn Sie darauf zurückblicken – wie zuversichtlich können Sie da sein, dass die Politik die Botschaft dieses Mal hört?Ich möchte weder optimistisch noch pessimistisch sein, sondern realistisch. Ich stelle fest, dass es die Verantwortung der Europäischen Kommission – und nicht der EZB – ist, die Einhaltung der Regeln zu überwachen. Die EZB hat die Pflicht, Botschaften auszusenden, wenn sie glaubt, dass es Probleme gibt, die angegangen werden müssen. Von Zeit zu Zeit ist das eine sehr delikate Gratwanderung. In den dramatischen Zeiten der Krise im August 2011 bin ich als EZB-Präsident sogar so weit gegangen, direkt Briefe an die Regierungschefs von Italien und Spanien zu schreiben. Die EZB kann nichts anordnen, aber sie kann und muss sagen, was sie beobachtet.- Ist denn die EU-Kommission da zu weich oder zu politisch?Der EU-Vertrag gibt der EU-Kommission volle Unabhängigkeit. Das ist absolut fundamental für den Erfolg unseres mutigen historischen Projekts. Wir hatten eine schwere Krise, aber die anderen entwickelten Volkswirtschaften hatten auch ihre eigenen Krisen. Entscheidend ist nun, dass wir darüber nachdenken, welche Lehren wir gezogen haben. Eine wichtige Lehre ist, dass der Stabilitäts- und Wachstumspaket gestärkt werden musste. Jetzt muss dieser auch völlig respektiert werden. Eine andere wichtige Lehre war die Implementierung des neuen Verfahrens bei makroökonomischen Ungleichgewichten. Dieses fundamentale Verfahren kann verhindern, dass es neue nationale, inländische und externe anhaltende Divergenzen gibt, die erneut erhebliche Probleme bringen würden. Und wir haben die Bankenunion. Aber wir müssen weitergehen: Wir brauchen einen Finanzminister, um die Exekutive zu stärken, und mehr demokratische Rechenschaftspflicht, was eine stärkere Einbeziehung des Europäischen Parlaments erfordert.- Lassen Sie uns noch einen Moment bei der Geldpolitik bleiben: Zuletzt gab es scharfe Attacken aus der Berliner Politik gegen die EZB und gegen Draghi persönlich. Wie sehr besorgt Sie ein solcher Konflikt zwischen dem größten Euro-Land und der EZB?Wenn ich mich nicht irre, sind einige dieser Angriffe zurückgenommen worden. Sie waren vollkommen inakzeptabel. Aus meiner Sicht tut der EZB-Rat unter Mario Draghi als Präsident, was angemessen ist in diesen außergewöhnlichen Umständen, wo sich möglicherweise das Risiko einer Deflation materialisiert. In meiner Zeit mussten wir 2010 und 2011 auch zu ungewöhnlichen Maßnahmen greifen, um anders gearteten Gefahren zu begegnen. Diese Entscheidungen haben ebenfalls zu Besorgnis in vielen Ländern geführt, inklusive Deutschlands.- Sie meinen den Kauf griechischer, irischer und portugiesischer sowie später von italienischen und spanischen Staatsanleihen.Das war nötig, um ein besseres Funktionieren der geldpolitischen Transmission in der Währungsunion als Ganzes wiederherzustellen. Zur gleichen Zeit mussten die betroffenen Länder und die gesamte Eurozone ihre Wirtschafts- und Fiskalpolitik und ihre Führungsstrukturen entschlossen verbessern. Auf jeden Fall ist es in unseren lebendigen Demokratien normal, eine Debatte zu haben. Wenn Fragen aufkommen, muss die EZB wieder und wieder erklären, warum außergewöhnliche Entscheidungen legitim und nötig waren und sind – was sie getan hat. Wenn es um die aktuelle Situation geht, muss man auch sehen, dass sich alle wichtigen Zentralbanken der entwickelten Volkswirtschaften in einer ähnlichen Situation befinden.- Die aktuelle Kritik an der EZB ist also nichts Besonderes? Ist es nicht eine neue Qualität, wenn der Bundesfinanzminister die EZB verantwortlich macht für den Aufstieg populistischer Bewegungen und Parteien wie der AfD?Wolfgang Schäuble ist der am meisten proeuropäische Politiker in Berlin. Er wird von allen respektiert. Ich bin überzeugt, dass er nicht gesagt hat, was die Presse berichtet hat. Aber es stimmt, man sieht einige besondere Spannungen. Wenn das der Fall ist, muss man seine Politik noch unermüdlicher und überzeugender erklären – so wie es Mario Draghi tut. Was ich auch sehr begrüßt habe, war, dass Bundesbankpräsident Jens Weidmann in dieser Diskussion die Unabhängigkeit der EZB so leidenschaftlich verteidigt hat.- Sehen Sie diese Unabhängigkeit in Gefahr?Nein, das tue ich nicht. Erstens waren die Deutschen immer leidenschaftliche Verteidiger der Unabhängigkeit der EZB, und sie sind auch der Preisstabilität vollkommen verpflichtet. Zweitens kann jeder sehen, dass die niedrige Inflation und in der Konsequenz die sehr niedrigen Zinsen auch eine Folge dessen sind, dass es an entschlossenem Handeln aller Regierungen mangelt – zuerst natürlich in den Ländern, die Probleme haben, aber auch in den erfolgreichen Ländern. Um ein Beispiel zu geben: In dem Moment, in dem wir hier sprechen, liegt die harmonisierte Inflation in Deutschland bei – 0,3 %! Da es sich um das konkurrenzfähigste Land handelt, ist die Inflation in Deutschland eine Art Obergrenze für alle anderen Volkswirtschaften! Wie können wir aus dieser Situation mit sehr niedriger Inflation herauskommen, wenn alle Länder, inklusive Deutschlands, nicht helfen? Und ich bin auch ein wenig enttäuscht, dass der Erfolg der EZB in Sachen Preisstabilität häufig nicht so anerkannt wird, wie es sein sollte, auch in Deutschland.- Was meinen Sie genau?Während der letzten 40 Jahre der D-Mark vor Einführung des Euro lag die durchschnittliche Inflationsrate bei 2,9 %. Seit der Einführung des Euro liegt die jährliche Inflation nur halb so hoch, bei rund 1,4 % bis 1,5 %. Die EZB hat also bislang für stabilere Preise gesorgt als die Bundesbank zu ihrer Zeit, insbesondere während der 1960er bis 1990er Jahre. Es gibt aber dennoch kaum einen Artikel in Deutschland, der sagt, die EZB hat einen fantastischen Job gemacht! Das andere ist, dass die anderen Mitglieder der Eurozone preisliche Wettbewerbsfähigkeit zurückerlangen müssen, um ihre vorherigen Verluste aufzuholen. Deshalb müssen ihre Kosten und ihre Inflation unterhalb der deutschen sein. Aber wie soll dann die EZB ihr 2 %-Ziel erreichen, wenn die deutsche Inflation bei – 0,3 % liegt? Deutschland braucht eine lebhaftere Wirtschaft, mehr Investitionen und mehr Konsum – was nichts anderes ist als das normale Funktionieren einer Marktwirtschaft, die hochkonkurrenzfähig ist und einen sehr erheblichen Leistungsbilanzüberschuss hat.- Eine ganze Reihe internationaler Beobachter fordert höhere Löhne in Deutschland, auch der Internationale Währungsfonds (IWF). Ist das wirklich die Lösung für das Inflationsproblem?Viele Experten fordern mehr staatliche Ausgaben in Deutschland. Tatsächlich wird der deutsche Staat für die Bewältigung der Immigration mehr ausgeben, und das ist nicht schlecht. Aber höhere Fiskalausgaben und wieder Defizite werden nicht das Problem des enormen Leistungsbilanzüberschusses lösen, und mir scheint, dass das auch nicht die Stimmung in der Bevölkerung trifft. Die Hauptverantwortung hat da ganz klar der Privatsektor. Es besteht ein klares Erfordernis für mehr Investitionen der Unternehmen und mehr Konsum, in der Tat auch durch höhere Löhne.- Schäuble hat also recht, wenn er den ausgeglichenen Haushalt, die “schwarze Null”, verteidigt? Viele Ökonomen sagen, in Zeiten von Null- und Negativzinsen solle der Staat mehr investieren.Ich kann verstehen, dass viele Ökonomen das sagen. Und als Volkswirt würde ich dazu neigen, diese Sichtweise zu teilen. Aber als genauer Beobachter der deutschen Gesellschaft habe ich eine Präferenz für den Privatsektorkanal, für private Investitionen und Konsum. Wolfgang Schäuble hat über seinen persönlichen unbestrittenen Erfolg hinaus noch ein Argument: die Grenze von 60 % des Bruttoinlandsprodukts für die Schuldenquote im EU-Vertrag. Meiner Ansicht nach ist der entscheidende Punkt aber auch vielmehr, dass die private Marktwirtschaft in Deutschland korrekt funktionieren muss: Wenn man höchst wettbewerbsfähig ist und Profite sowie Extra-Ersparnisse anhäuft, braucht es eine makroökonomische Korrektur. Ich plädiere nicht gleich für Kerninflationsraten wie zu D-Mark-Zeiten! Aber rund 2 %, und zwar auf der oberen Seite, wären mittelfristig nicht nur angemessen, sondern auch notwendig. Die anderen Länder hätten etwas Spielraum, um aufzuholen, und die durchschnittliche Inflation im Euroraum wäre näher an der mittelfristigen Definition von Preisstabilität, namentlich von nahe 2 %, aber unter 2 %.- Gehört das 2 %-Ziel vielleicht auf den Prüfstand? Vor allem in Deutschland argumentieren einige, Preisstabilität bedeute eigentlich 0 % Inflation.Auf keinen Fall! In meiner Zeit gab es einige im IWF, die uns gesagt haben, ein Inflationsziel von 4 % wäre viel besser. Wenn Zentralbanken ihr Inflationsziel abhängig von der Stimmung der Zeit ändern, wären sie vollkommen verloren. Die Zentralbanken sind da, um mittel- und langfristig ein Anker für Stabilität zu sein. Das 2 %-Inflationsziel ist zu einem international wichtigen Richtwert geworden. Wir haben gegen den 4 %-Vorschlag gekämpft, und Zentralbanken müssen gegen den 0 %-Vorschlag kämpfen. Dieser Vorschlag ist auch ökonomisch nicht richtig. Es gibt viele gute Gründe, mittelfristig eine mäßige, aber erheblich oberhalb von null liegende Inflation zu haben. Es erleichtert relative Preisanpassungen und es hilft, den Schuldenüberhang schrittweise zu reduzieren.- Die Kritik in Deutschland an dem EZB-Kurs hat noch einmal an Schärfe zugelegt mit der Debatte über “Helikoptergeld”, also von Geldgeschenken an Unternehmen, Haushalte oder den Staat. Wäre dieses Instrument durch das EZB-Mandat gedeckt?Das ist ein sehr gutes Beispiel für das, was ich meinte – wann eine Zentralbank klar zu sagen hätte: euer Job! Die letzte Krise hat gezeigt, dass alles passieren kann, so dass die Zentralbanken permanent alarmiert sein müssen. Aber selbst wenn die Situation absolut dramatisch wäre und es Gründe geben würde, den Menschen Geld für nichts zu geben, wäre das sicher nicht die Aufgabe der EZB. In einer solchen Situation müssten die Regierungen und Parlamente entscheiden, ob sie ihr Budget nutzen und “Kaufkraft aus dem Helikopter” verteilen wollen. Das ist absolut nichts, was in den Aufgabenbereich der Zentralbank fällt. Und Mario Draghi hat auch sehr klar gesagt, dass der EZB-Rat das zu keiner Zeit ins Auge gefasst hat!- Sie sind überzeugter Europäer durch und durch. Wie sehr besorgt Sie die aktuelle Verfassung Europas und des Euroraums?Meiner Ansicht nach ist Europa das vielleicht kühnste historische Projekt seit der Schaffung der Vereinigten Staaten von Amerika im 18. und 19. Jahrhundert. Was in den vergangenen 70 Jahren erreicht worden ist, ist absolut beeindruckend. Das gilt insbesondere auch für den gemeinsamen Währungsraum. Wir sind zudem durch die schwerste Finanzkrise seit dem Zweiten Weltkrieg gegangen, und wir haben das überstanden. Der Euro ist als glaubwürdige Währung nie in Frage gestellt worden. Das ist ein überragender Erfolg. Aber es gibt international eine Voreingenommenheit gegenüber Europa. Nehmen Sie die Eurozone: Man spricht nur von den Schwierigkeiten Griechenlands. Diese sind real. Aber die Fakten sehen so aus: Erstens: Im September 2008 begann die schwerste Krise seit 70 Jahren. Zweitens: Beinahe jeder auf der anderen Seite des Atlantiks erwartet den Rückbau der Eurozone. Drittens: Zu der Zeit gab es 15 Euro-Mitglieder. Viertens: Diese 15 Länder sind heute immer noch da – auch Griechenland. Fünftens: Wir sind nicht mehr nur 15, sondern 19. Das nenne ich Widerstandsfähigkeit.- Befürchten Sie eine Rückkehr zu mehr nationalstaatlichem Denken und Handeln?Ehrlich gesagt, die Entscheidungen, die während und seit der Krise getroffen wurden, gehen nicht in diese Richtung: Das neue Ungleichgewichtsverfahren, die Bankenunion, der Europäische Stabilitätsmechanismus ESM – all das alles geht nicht in die Richtung Renationalisierung. Was die Stimmung der europäischen Mitbürger betrifft, bin ich überzeugt, dass sie alles in allem viel mehr Europäer sind, als es häufig suggeriert wird. Es geht nicht darum zu leugnen, dass es in allen entwickelten Volkswirtschaften eine populistische Sensitivität gibt – in den USA wie in Europa. Darin drückt sich die Frustration vieler in unseren Gesellschaften aus, und es ist ein Thema, das unsere Demokratien ernst nehmen müssen. Aber wer weiß, dass im jüngsten Euro-Barometer die Bürger der EU-Kommission sehr viel mehr Vertrauen ausgesprochen haben als den nationalen Regierungen und dem EU-Parlament sehr viel mehr Vertrauen als den nationalen Parlamenten? Ich akzeptiere das permanente Europa-Bashing nicht. Ich fordere, dass wir weitergehen in Sachen Führungsstrukturen und demokratischer Rechenschaftspflicht.- Und wenn wir das nicht bekommen, wird der Euro auf Dauer doch scheitern?So zu argumentieren hieße, sich dem Camp der Anti-Europäer anzuschließen, das immer behauptet, Europa wird nicht überleben. Am Ende entscheiden die Bürger. Aber ich bin überzeugt, dass es heute noch viel mehr Gründe für die Einheit Europas gibt als nach dem Zweiten Weltkrieg. Heuzutage müssen wir nicht nur die USA in Betracht ziehen, sondern auch die Konstellation sehr großer Schwellenländer wie China, Indien, Brasilien, Mexiko und so weiter.- Noch einmal zurück zur Geldpolitik: Null- und Minuszinsen, breite Anleihenkäufe – ist das die “neue Normalität” der Geldpolitik?Ich denke nicht, dass das die permanente “neue Normalität” ist. Wenn die entwickelten Volkswirtschaften ihre strukturellen Schwächen entschlossen beseitigen, was zentral ist, werden die Zentralbanken schrittweise aus ihren aktuellen, außergewöhnlich akkommodierenden Politiken aussteigen.- Aber Japan hat seit Jahren Null- oder Negativzinsen, und die Fed tut sich schwer mit kleinsten Zinserhöhungen. Sind Leitzinsen von 4 % oder 5% wie vor der Krise wirklich realistisch in der Zukunft?Wenn die Zentralbanken große Fehler machen, können wir sehr hohe Inflationsraten bekommen – und dann werden auch die Leitzinsen sehr hoch sein! Aber das ist nicht das, was ich erwarte. Wir werden schrittweise aus der Situation mit niedrigen und negativen Zinsen herauskommen, wenn alle Verantwortlichen – Regierungen, Parlamente, Sozialpartner – ihrer Verantwortung gerecht werden. Ein Punkt, der mich besorgt, ist, dass eine große Mehrheit von Ökonomen in allen entwickelten Ländern, in den USA, in Japan, in Europa, nun gleichzeitig niedrigere Wechselkurse gegenüber anderen wichtigen Währungen empfiehlt. Der europäische Konjunkturzyklus hinkt hinter jenem der USA hinterher, und deshalb ist es normal, dass die europäische Geldpolitik akkommodierender ist und deshalb der Euro ein wenig gedrückt wird. Das sollte aber nicht in Forderungen an die Fed münden, selbst die akkommodierende Politik beizubehalten. Die Zentralbanken tun richtig daran, diesen Forderungen zu widerstehen. Wenn sie solchen Empfehlungen folgen würden, die ein offenkundiges “Nullsummenspiel” darstellen, würden sie womöglich gefangen sein in unsinniger “Beggar-thy-neighbour”-Politik.- Also in einer Politik, die zulasten der anderen geht. Muss das Währungssystem grundsätzlich überdacht werden?Ich denke, dafür gäbe es gute Gründe. Wir befinden uns an einem Wendepunkt. Zum einen wird der chinesische Renminbi Teil des SDR-Währungskorbs des IWF. Dieser Korb steht wirklich im Zentrum des globalen Währungssystems, und das ist die erste Erweiterung um eine Schwellenlandwährung. Zum anderen hat sich wie gesagt nach der Krise die Wahrnehmung in den entwickelten Volkswirtschaften etwas verändert, welche Wechselkursschwankungen tolerabel sind. Daraus müssen wir Schlüsse ziehen.- Was schlagen Sie konkret vor?Eine mögliche Idee wäre es, dass der IWF und die Emittenten der Währungen in dem SDR-Währungskorb den Marktteilnehmern für die wichtigen Währungspaare mittelfristige, gleichgewichtige Wechselkurse signalisieren. Eine Rückkehr zu einer Art Bretton-Woods-System mit festen Wechselkursen wäre nicht angemessen, und strikte Wechselkursbandbreiten würden nur permanent die Spekulanten einladen, die Grenzen zu testen. Aber mittelfristige gleichgewichtige Kreuzparitäten für die wichtigsten frei schwankenden Währungen anzuzeigen, so wie sie die interessierten Parteien sehen, mit dem Stempel des IWF, könnte helfen, das ganze System zu stabilisieren. Das würde auch dazu passen, dass alle wichtigen Währungen der entwickelten Volkswirtschaften heute den gleichen globalen nominalen Inflationsanker von 2 % teilen – was ich persönlich als eine zentrale Lehre betrachte, die aus der Krise gezogen wurde.—-Das Interview führte Mark Schrörs.