Umfrage der Börsen-Zeitung

Ökonomen halten EZB-Prognosen für zu optimistisch

Das Lohnwachstum könnte länger als von der EZB erwartet hoch bleiben, warnen einige Ökonomen im Gespräch mit der Börsen-Zeitung. Andere sehen das hingegen nicht so. Einigkeit herrscht jedoch darüber, dass die EZB-Prognose bei der Konjunktur zu optimistisch ist.

Ökonomen halten EZB-Prognosen für zu optimistisch

Ökonomen halten EZB-Prognosen für zu optimistisch

Einige Volkswirte warnen vor lang anhaltendem Lohnwachstum – Senkung der Projektion für Konjunktur sowie Zinssenkung im September allgemein erwartet

Von Martin Pirkl, Frankfurt

Die Unsicherheit bei der Inflationsentwicklung in der Eurozone ist derzeit hoch. Während einige Ökonomen optimistisch auf die Teuerung blicken und daher eine Zinssenkung der Notenbank im September befürworten, halten andere das zwar für den wahrscheinlichsten, aber falschen Schritt. Mit Blick auf das Mandat der Preisstabilität sei eine Zinssenkung der EZB im kommenden Monat „schwierig zu begründen“, meint Ingo Mainert, CIO Multi Asset Europe bei Allianz Global Investors (AGI). „Schon der Schritt im Juni war, im Nachgang betrachtet, wohl verfrüht.“

Debatte um Lohnwachstum

Mainert zufolge ist die EZB bei der Entwicklung der Löhne deutlich zu optimistisch. Die Notenbank erwartet einen Rückgang des Lohnwachstums in den kommenden Monaten und vor allem im nächsten Jahr. Sollte sich diese Annahme als falsch herausstellen, dürfte die Inflation wesentlich hartnäckiger sein, als es die EZB derzeit prognostiziert. „Die EZB scheint mir etwas zu entspannt“, sagt auch Carsten Brzeski, Chefökonom der ING. Hohe Lohnforderungen der Gewerkschaften als Ausgleich für die Kaufkraftverluste in der Vergangenheit, aber auch der demografische Wandel werden das Lohnwachstum seiner Einschätzung nach noch längere Zeit hoch halten.

Auf den demografischen Wandel verweist auch Mainert. Zudem führt er an, dass es in einigen Ländern der Eurozone Lohnindexierungen gibt. Die hohe Inflation in der Vergangenheit werde daher automatisch in einigen Branchen zu hohen Lohnanpassungen führen. „Ein Rückgang des Lohnwachstums ist derzeit schwierig ableitbar“, schlussfolgert Mainert. „Im Gegenteil, wir beobachten eher eine gewisse Sperrigkeit beim Anstieg von Löhnen und Dienstleistungspreisen – man kann hier wohl von einer Lohn-Dienstleistungspreis-Spirale sprechen.“

Großer Nachholbedarf

Gänzlich anders bewertet Silke Tober die Lage. „Das deutlich restriktive Zinsniveau dämpft die Konjunktur und insbesondere die Investitionen, obwohl die Inflation aus heutiger Sicht bereits im kommenden Jahr das Inflationsziel von 2% erreichen wird“, sagt die Leiterin des Referats Makroökonomische Grundlagenforschung und Geldpolitik des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung. „Eine weitere Verringerung des Restriktionsgrades ist umso wichtiger, als sich die wirtschaftlichen Aussichten eingetrübt haben und die Risiken für die Finanzmarktstabilität hoch sind.“

Die Lohnentwicklung betrachtet Tober als unproblematisch für die EZB. Die hohen Lohnsteigerungen seien Nachholeffekte und keine Folge eines überhitzten Arbeitsmarktes. Ähnlich beurteilt Christian Lips die Lage. „Die gute Botschaft ist, dass die jüngsten Abschlüsse vor allem als Kompensation für vergangene Inflation zu sehen sind und nicht etwa mit hohen Inflationserwartungen begründet werden“, sagt der Chefökonom der Nord/LB.

Tober mahnt die EZB mit Blick auf den Arbeitsmarkt zu Zinssenkungen. Die Konjunktur, insbesondere in Deutschland, sei schwach. Eine deutlich restriktive Geldpolitik könnte Unternehmen dazu veranlassen, ältere Arbeitnehmer in den vorzeitigen Ruhestand zu entlassen. Mit Blick auf den demografischen Wandel würden diese jedoch benötigt, sobald es zu einem konjunkturellen Aufschwung kommt. „Auch solche Auswirkungen der restriktiven Geldpolitik muss die EZB im Blick haben“, sagt Tober.

Wie restriktiv ist die Geldpolitik?

Unterschiedlicher Auffassung sind die befragten Wirtschaftswissenschaftler auch bei der Frage, wie restriktiv die Geldpolitik der EZB derzeit eigentlich ist. „Deutlich“, meint Tober. Sie schätzt das neutrale Niveau bei etwa 2,25%. Der Einlagensatz liegt mit derzeit 3,75% um 150 Basispunkte über dieser Marke. „Eindeutig restriktiv“ ist die Geldpolitik auch laut Alexander Krüger, Chefvolkswirt der Hauck Aufhäuser Lampe Privatbank. Seinen Berechnungen zufolge ist die Geldpolitik jedoch bereits ab 2,75% oder vielleicht sogar ab 3% nicht mehr restriktiv. „Möchte die EZB dort hinkommen, dürfte sie bei einem behutsamen Vorgehen mindestens bis Mitte 2025 damit beschäftigt sein“, sagt Krüger.

Brzeski wertet die Geldpolitik hingegen als nur leicht restriktiv, „da wir mit der inversen Zinskurve ja bei den langfristigen Zinsen historisch betrachtet wirklich keine hohen Zinsniveaus haben. Meiner Meinung nach liegen wir bei den langfristigen Zinsen (10y Bund) sogar noch unter dem neutralen Niveau.“

Konjunktur spricht für Zinssenkung

Einigkeit herrscht hingegen dabei, dass die aktuelle Konjunkturprognose der EZB zu optimistisch sein dürfte. „Die Gefahr ist groß, dass die Konjunkturprognose der EZB zu optimistisch war und ist“, urteilt Brzeski. „Im Grunde genommen erwartet die EZB nun schon lange, dass die Konjunktur in kürzester Zeit wieder zum Potenzialwachstum zurückkehrt. Leider muss sie diesen Zeitpunkt regelmäßig verschieben.“

„Die nach unten gerichteten Risiken für die Konjunktur sind erheblich“, meint auch Tober, die deshalb für baldige Zinssenkungen der EZB plädiert. Vor allem Deutschland dürfte nach Einschätzung der Ökonomen auf absehbare Zeit kein starkes Wirtschaftswachstum präsentieren können. „Deutschland ist der Konjunkturbremsklotz im Euroraum“, sagt Krüger. „Derzeit ist nicht absehbar, warum die Wirtschaft dann über längere Zeit beständig und klar über dem Trend wachsen soll.“ Er rechnet mit einer Revision der EZB-Projektion nach unten. Mainert verweist bezüglich der deutschen Konjunktur auf die schwache Kapazitätsauslastung in der Industrie, die zuletzt bei 77% lag. Dies mache wenig Hoffnung auf eine baldige konjunkturelle Erholung.

„Wir sehen keine konjunkturbedingten Aufwärtsrisiken für die Inflation“, sagt Lips. Er erwartet und befürwortet daher eine Zinssenkung im September um 25 Basispunkte. Auch diejenigen Befragten, die Skepsis gegenüber einer Lockerung der Geldpolitik im kommenden Monat äußern, erwarten, dass die schwächelnde Konjunktur die EZB zu diesem Schritt veranlassen wird. „Sollte die EZB bei der Vorlage der neuen Projektionen im September die Wachstumseinschätzung nach unten nehmen, wovon wir ausgehen, dürfte dieses trotz der hartnäckig über dem Ziel liegenden Inflation ein starkes Argument für die Notenbank sein, die Leitzinsen im selben Monat zu senken“, sagt Mainert.


Die Antworten der Befragten im Wortlaut:

Christian Lips, Chefökonom der Nord/LB: „Eine kleine Zinssenkung der EZB im September erscheint angemessen“

Carsten Brzeski, Chefökonom der ING: „Die EZB scheint mir bei der Lohnentwicklung etwas zu entspannt“

Alexander Krüger, Chefökonom der Hauck Aufhäuser Lampe Privatbank: „Die Inflationsrisiken lauern von allen Seiten“

Ingo Mainert, CIO Multi Asset Europe bei Allianz Global Investors (AGI): „Man kann wohl von einer Lohn-Dienstleistungspreis-Spirale sprechen“

Silke Tober, Leiterin des Referats Makroökonomische Grundlagenforschung und Geldpolitik des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung: „Die Risiken für die Finanzmarktstabilität sind hoch“

Das Lohnwachstum in der Eurozone könnte länger als von der Europäischen Zentralbank erwartet hoch bleiben, warnen einige Ökonomen im Gespräch mit der Börsen-Zeitung. Andere sehen das hingegen nicht so. Einigkeit herrscht jedoch darüber, dass die EZB-Prognose bei der Konjunktur zu optimistisch ist.

Die kompletten Antworten aller Befragten im Wortlaut finden Sie auf www.boersen-zeitung.de im Ressort Konjunktur.

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