IM INTERVIEW: ALEXEJ NAWALNY

"Putins Elite vergöttert den Westen"

Der russische Oppositionsführer spricht über den Nutzen von Sanktionen und den Zynismus der Elite

"Putins Elite vergöttert den Westen"

Es gibt in Russland nur einen, den der Kreml fürchtet: Alexej Nawalny. Mit der Börsen-Zeitung spricht Russlands wichtigste Oppositionsfigur über das zweischneidige Schwert der Sanktionen, die drei russischen Tabus sowie die Sinnlosigkeit, korrupt zu sein, wenn man dann nicht nach Italien fahren kann.- Der ganze Ukraine-Konflikt hat Russland Sanktionen seitens des Westens beschert. Ihrer Ansicht nach will Kremlchef Wladimir Putin unbedingt eine Aufhebung dieser Sanktionen erreichen. Aber mal ehrlich: Die Sanktionen sind auch praktisch, weil Putin sie für die Rezession in der Wirtschaft verantwortlich machen kann.Gut, aber sie wirken ja trotzdem real. Zum ersten Mal seit zehn Jahren geht der Lebensstandard in Russland zurück.- Sind Sie also ein Anhänger der Sanktionen?Als Bürger Russlands kann ich Wirtschaftssanktionen nicht unterstützen, aber sie hatten natürlich einen Sinn.- Das ist ein Widerspruch. Sind Sie für Sanktionen oder nicht?Jedes Land handelt im Rahmen seiner Logik. Aus Europas Sicht waren sie richtig. Vor allem wegen der Geschlossenheit. Putin hatte ja die Idee verbreitet, dass westliche Politiker sich feige nach der öffentlichen Meinung richten. Die Sanktionen waren für ihn daher ein Schock. Ohne sie wären die russischen Truppen schon in Odessa. Als Bürger aber sage ich, dass es statt Wirtschaftssanktionen vielmehr Sanktionen gegen Personen geben müsste.- Die gibt es ja auch.Ja, aber gegen ein, zwei Dutzend Leute. Und dann wurden sie so gestaltet, dass sie nicht wirken. EU-Sanktionen wurden gegen die verhängt, die ihr Vermögen in den USA haben, und umgekehrt. Also leidet niemand darunter, kein Vermögen wurde eingefroren. Dabei würden gerade solche Sanktionen vom russischen Volk unterstützt. Man hat sich darauf beschränkt, Putin zu zeigen, dass man seine Mafia namentlich aufgezählt hat. Es ist eine politische Geste, nicht mehr.- Was wäre zu tun?Die bestehenden Sanktionen gegen die Personen umsetzen. Und Sanktionen gegen die sogenannte “Partei des Krieges” einführen. Das sind etwa 1 000 Leute inklusive ihrer Familien, denn das Vermögen ist meist auf Familienmitglieder registriert. Es sind Abgeordnete und Funktionäre der Putin-Partei “Einiges Russland” und die Chefs der TV-Propaganda. Sie schüren den Konflikt und schaffen diese Atmosphäre im Land.- Aber sie treffen nicht die Entscheidungen.Die Entscheidung trifft ohnehin nur einer. Aber er hat 1 000 Leute, die sie für ihn durchführen und die Hauptnutznießer des Krieges sind. Sie sollte man in Europa und in die USA nicht einreisen lassen.- Warum soll das wirken?Weil es der wichtigste Wert der russischen Gauner ist. Es wäre nämlich sinnlos, korrupt zu sein, wenn man dann nicht nach Italien fahren und die dortige Schönheit genießen könnte. Einer unserer berühmtesten TV-Moderatoren, Wladimir Solowjow, verdient hier das Geld mit der Propaganda des Krieges und fährt dann in seine Villa am Comer See in den Urlaub.- Also ist der Westen in der russischen Elite entgegen der Negativ-Propaganda weiter beliebt?Natürlich, mehr noch: Sie vergöttert den Westen. Das Phänomen ist pikant: Die Putin-Elite ist vom Westen und vom dortigen Lebensstil mehr verzaubert als früher. Sie ist ja vom eigenen Volk noch mehr enttäuscht, weil sie sieht, dass man ihm jeden Unfug vorsagen kann. Sag dem Volk: Krieg mit der Ukraine, und es ist dafür. Daran sieht die Elite, dass aus unserem Land nie etwas werden wird. Und daher will sie in den Westen fahren und die Kinder dort leben lassen. Die Elite – das sind sehr zynische und gescheite Leute. Deshalb muss man sie Sanktionen unterwerfen.- Und das würde wozu führen?Zu dem, was der Westen seit Langem will: die Spaltung der Putin-Elite.- Sie selber haben mit Ihrem Auftreten eine gewisse Spaltung in der russischen Elite provoziert und sind zum meistgefürchteten Mann des Kremls geworden. Ich erinnere mich, als Sie vor einigen Jahren Ihre Karriere als Oppositionsfigur begannen, bauten Sie thematisch geschickt auf den Kampf gegen Korruption und Migration. Haben sich die neuralgischen Themen in der Gesellschaft geändert?Natürlich. Putin hat ja den Krieg in der Ukraine begonnen, um den Diskurs zu verschieben. Hat man früher die realen Probleme der Korruption, Migration und Armut diskutiert, so diskutiert man jetzt über die USA, den Krieg und die Frage, ob Europa und die USA uns besiegen. Vor drei Jahren gab es das noch nicht.- Man muss sagen, dass sich das Ausländerthema von selbst erledigt hat, weil die vielen Gastarbeiter krisenbedingt aus Russland weggegangen sind.Ja, aber die Korruption wurde nicht weniger. Und wir dokumentieren sie. Keiner von den angeprangerten Staatsdienern kann erklären, woher er das viele Geld hat. Auch die anderen Probleme sind nicht behoben und bleiben daher ein Thema: ungerechte Verteilung des staatlichen Vermögens, ein Steuersystem, das die Regionen aussaugt. Aber Putin hat die wichtigen Fragen verdrängt. Denn über Leben und Tod, Krieg und Frieden zu reden ist allemal leichter als über Fragen der Korruption. Und das kann man immer aufwärmen. Mit ein bisschen Geld fangen die Kämpfe in der Ostukraine wieder an, und das Volk ist wieder mobilisiert. Wie viele Imperatoren in der Geschichte hat Putin den Krieg erklärt, um die Nation hinter sich zu sammeln. Das Spiel wird ewig so weitergehen. Die europäischen Politiker müssen das verstehen.- Warum ich nach Ihrer temporären Nähe zum Nationalismus gefragt habe: Der Westen denkt, Opposition gegen autoritäre Regime müsse liberal sein. Kann es jedoch sein, dass man in Russland weniger Berührungsängste mit Nationalismus zeigen muss, um ernst genommen zu werden?Die Wahrnehmung unserer Realität ist im Westen oft falsch. Die Opposition in Russland ist keine spezifische und geht einfach von realen Problemen aus. Wer sie anspricht, wird unterstützt. Ich habe viel mit den Menschen zu tun. Unter dem Strich sind es etwa fünf Fragen, die sie stellen. Im Westen gibt es viele Parteien, in Russland aber nur zwei Gruppen: jene, die für Putin ist, und jene, die gegen ihn ist. Letztere lässt man heute auch nicht mehr zur Wahl zu. Oder man bremst sie aus, indem man eine eigene liberale Partei zur Ablenkung gründet. Daher hat Putin eine Zustimmungsrate von 86 %.- Man muss aber sagen, dass auch der Protest verstummt ist.Das Russland der Jahre 2011 und 2012 und das jetzige Russland sind zwei verschiedene Länder. Die damaligen Proteste haben einiges gebracht, auch die Reform des politischen Systems war zugesagt. Aber dann hat Putin verstanden, dass der Versuch, mit fairen Wahlen zu experimentieren, schnell zum Machtverlust führt. Hatten wir damals einen politischen Gefangenen – nämlich den Ex-Oligarchen Michail Chodorkowski -, so haben wir heute hunderte. Aber dieses neue System, dieses andere Russland ist teuer erkauft – Putin musste dafür einen Krieg beginnen und Sanktionen in Kauf nehmen.- Muss sich nicht auch die Opposition anders aufstellen?Wissen Sie, wir sind gerade dabei, das zu tun. Und zwar, indem wir in den Regionen “Primaries” durchführen. Die Oppositionsparteien nämlich haben selbst viele Jahre nicht nach demokratischen Prinzipien gearbeitet und teilweise schon 25 Jahre dieselben Leute an der Spitze. Ein geschlossener Kreis von ein paar Leuten hat alles entschieden. Und sie haben es den Regionen dann von Moskau aus vorgesetzt. Das hat dann niemanden interessiert, und daher haben sie 1 bis 2 % Zustimmung bekommen. Es ist schwer, die Leute jetzt davon zu überzeugen, dass sie mehr selbst in die Hand nehmen müssen. Sie glauben nicht an demokratische Wahlen, weil sie solche seit 1993 nicht mehr gesehen haben. Sie halten alles für ein Spiel.- Nochmals zu Wahrnehmungsfragen des Westens und Russland: Manche gegenseitigen Attacken wie etwa in der Frage des Umgangs mit Homosexualität nehmen sich aus wie ein Pingpong-Spiel, als wollte Putin mit der Thematisierung eine bestimmte Reaktion des Westens provozieren.Und der Westen geht ihm auf den Leim. Putins Berechnung ist in der Tat einfach. Er ist nämlich ein Präsident der Soziologie und weiß, dass es für Russen drei Tabus gibt: Selbstkritik in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg, Homosexualität und Religion. Dabei sind die Russen absolut kein religiöses Volk. In Deutschland etwa gehen um ein Vielfaches mehr Leute in die Kirche. Auch in Sachen Abtreibung oder Scheidung sind die Russen weitaus weniger konservativ als etwa die Amerikaner. Und doch ist bei uns alles von einer sakralen Aura umhüllt. Die Idee, dass wir das “Heilige Russland” sind, während der Westen in einer ewigen Gay-Parade lebt, verkauft sich sehr gut.- Könnte man im Westen anders reagieren?Wie denn? Die Politiker sind ja ihren Wählern verpflichtet, und diese sind aufgebracht, wenn Pussy Riot – eine Gruppe russischer Punk-Sängerinnen – für irgendeinen Tanz in der Kirche verhaftet wird. Putin versteht sehr gut, dass er so die öffentliche Meinung konsolidiert und Europa reizt. Er weiß genau, wie das westliche System der Beschlussfassung ausschaut. Und daher versteht er, wohin er schlagen muss. Und unsere Elite weißt, dass Putins Kampf gegen den liberalen Teil Europas eine Lüge ist.- Ende Februar wurde der Oppositionspolitiker Boris Nemzow ermordet. Hat damit eine neue Ära in Russland begonnen?Die Atmosphäre hat sich verändert. Lange hat ja die Vorstellung geherrscht, Putin sei ein aufgeklärter Autokrat, der Russland modernisieren will. Seit 2010 besteht aber kein Zweifel mehr, dass ihn nur Machterhalt und persönliche Bereicherung interessieren. Dennoch hätte man niemanden außer mich, der ich mich mit dem Gefährlichsten, mit Korruption, befasse, gefragt, ob er um sein Leben fürchte. Mit dem Ukraine-Konflikt aber scheinen die letzten Grenzen gefallen zu sein.- Also herrscht eine Atmosphäre der Angst?Ja. Und wissen Sie: Der Mord hat vor allem auch die Elite um Putin schockiert, denn Nemzow war als Ex-Minister Teil der Elite und mit allen bekannt. Solche Leute sind normalerweise sicher. Selbst die offizielle Version spricht davon, dass Tschetschenen monatelang Nemzow beschatteten. Weil aber auch der Geheimdienst FSB ihn beschattete, musste der FSB davon gewusst haben. Alle wissen, dass der Mord eine Verbindung zu Ramzan Kadyrow, dem tschetschenischen Präsidenten, und einem tschetschenischen Abgeordneten sowie einem Senator hat. Die Frage ist, ob Kadyrow eine Billigung von oben hatte. Auf dieser Ebene wird natürlich nichts aufgedeckt werden.- Denken Sie nicht manchmal: Wozu tue ich mir das alles an?Ich mache meine Arbeit gern. Und ich habe viel Unterstützung.- Aber da ist noch die Familie. Man hat Ihren Bruder quasi als Druckmittel ins Gefängnis gesteckt.Ja, das ist alles andere als lustig. Das ist der Preis, den wir als Familie zahlen.- Wie geht man mit Ihrem Bruder um?Wie mit einem durchschnittlichen russischen Gefangenen. Man kann nicht sagen, dass die Bedingungen schrecklich sind, aber gut ist auch etwas anderes. Er sitzt im Gefängnis im Gebiet Orlow, 900 Kilometer nordöstlich von Moskau. Manchmal telefonieren wir.- Hat er Ihnen dabei nicht schon mal gesagt, Sie sollen mit dem ganzen Zeug aufhören?Nein, im Gegenteil.- Gretchenfrage: Wie halten Sie es mit der Krim?Ich habe eine klare Position: Ein Referendum unter Kontrolle der internationalen Gemeinschaft, Russlands und der Ukraine muss her.—-Das Interview führte Eduard Steiner.