Im Blickfeld: Liquidity Coverage Ratio

Aufsicht prüft Stellschrauben für Liquiditätsregeln

Nach dem Bankenbeben in den USA und in der Schweiz zeichnen sich international strengere Regeln für die Liquiditätssteuerung von Banken ab. Dabei kommt es nicht allein auf Kennziffern an.

Aufsicht prüft Stellschrauben für Liquiditätsregeln

IM BLICKFELD: Liquidity Coverage Ratio

Aufsicht prüft Stellschrauben für Liquiditätsregeln

Nach dem Bankenbeben geraten Kennziffern und Management in den Blick

Von Philipp Habdank und Jan Schrader, Frankfurt

Kaum nähert sich das Eigenkapitalregelwerk Basel III der Vollendung, zeichnet sich für die Kreditwirtschaft auch schon die nächste Regelverschärfung ab: Die internationalen Standardsetzer nehmen die Liquiditätssteuerung in den Blick. Das Arbeitsprogramm des Finanzstabilitätsrats (Financial Stability Board, FSB) sei angesichts des jüngsten Bankenbebens bereits “neu priorisiert” worden, schrieb Klaas Knot, Notenbankchef der Niederlande und Vorsitzender des Gremiums, am Dienstag den Finanzministern und Zentralbankchefs der G20-Staaten.

Neben der Implementierung eines internationalen Rahmenwerks für die Abwicklung von Banken zählt er die Interaktion zwischen Zinssätzen und Liquiditätsrisiken und die Rolle von Technologie und Sozialen Medien bei Einlagenflüssen auf. Noch deutlicher formulierte es BaFin-Präsident Mark Branson: Einlagen können demnach sehr viel schneller abgezogen werden, als man nach der Finanzkrise zunächst annahm, führte er im Mai auf einer Pressekonferenz der Finanzaufsicht aus. So seien ungesicherte Einlagen keineswegs so stabil wie unterstellt. “Daher müssen wir sehr genau prüfen, an welchen Stellen wir die Liquiditätsregeln nachschärfen sollten.”

Credit Suisse: Mit solider LCR am Abgrund

Schon mit der Finanzkrise vor 15 Jahren war klar, dass sich Liquidität nicht immer wie Wasser aus dem Hahn zapfen lässt. Das zeigte sich auch zuletzt: Mehr als 900 Mrd. Dollar sind in diesem Jahr allein bis Ende März aus dem US-amerikanischen Bankensystem abgeflossen – ein beispielloser Wert in der Geschichte der USA. Einige Banken haben das nicht überlebt. Der Silicon Valley Bank flossen quasi über Nacht so viele Kundeneinlagen ab, dass sie vom US-Einlagensicherungsfonds am 10. März gerettet werden musste.

In Europa erwischte es die Credit Suisse. Versicherte die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht (Finma) am 15. März noch, dass die Bank alle Anforderungen an Kapital und Liquidität erfülle und von den Problemen in den USA keine direkte Ansteckungsgefahr ausgehe, ordnete die Aufsicht nur vier Tage später die Fusion mit der UBS an, da der Credit Suisse andernfalls die Zahlungsunfähigkeit drohe.

Präzise Zahl mit unklarer Aussage

Dabei fällt der Blick auf die Liquiditätsdeckungskennziffer (Liquidity Coverage Ratio, LCR). Liegt sie über 100%, sollte eine Bank in der Lage sein, “im Falle eines schwe­ren Stress-Sze­na­ri­os den über einen Zeit­raum von 30 Tagen auf­tre­ten­den Nettozahlungs­verpflichtungen nach­kom­men zu kön­nen”, wie die Bundesbank festhält. Doch das theoretische Rechenspiel lässt sich nicht immer auf die Praxis übertragen. So wies die Credit Suisse für das vierte Quartal 2022 eine durchschnittliche Quote von 144% aus. Krisenfest war sie damit mitnichten.

Die LCR ist der aufsichtsrechtliche Min­dest­be­stand an hoch­li­qui­den Ak­ti­va (HQLA), den Kre­dit­in­sti­tu­te als Li­qui­di­täts­re­ser­ve vor­hal­ten müs­sen. Dazu zählen etwa Bargeld, Zentralbankguthaben und Staatsanleihen sowie in gewissen Grenzen auch Unternehmensanleihen, gedeckte Schuldverschreibungen und forderungsbesicherte Wertpapiere. Um die LCR zu berechnen, wird die HQLA durch den gesamten erwarteten Nettoabfluss von Barmitteln in den nächsten 30 Kalendertagen geteilt. Das Ergebnis wird in Prozent ausgedrückt und muss stets mindestens 100% betragen. Der unterstellte Nettomittelabfluss ist dabei allerdings eine wesentliche Rechengröße, die zugleich viel Ermessensspielraum lässt.

Banken übererfüllen die Liquiditätsanforderungen

In aller Regel weisen Banken eine deutlich höhere LCR aus. Einem Research-Papier der Commerzbank zufolge, das sich auf Daten des einheitlichen Aufsichtsmechanismus (Single Supervisory Mechanism, SSM) bezieht, stieg die aggregierte LCR-Quote für das Bankensystem des Euroraums von 138% im September 2016 auf 161% Ende 2022. Die Analysten führen den starken Anstieg zu Beginn der Pandemie größtenteils auf die expansive Geldpolitik der EZB zurück.

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Schon im gewöhnlichen Bankgeschäft schwankt die Liquiditätslage, etwa weil sich die Kontostände im Monatsverlauf verändern. Neben der LCR existiert die strukturelle Liquiditätsquote (Net Stable Funding Ratio, NSFR), die sich auf einen längeren Zeitraum bezieht. Sie sollte aus Sicht von BaFin-Präsident Branson neben der LCR ebenfalls “analysiert” werden.

Als besonders stabil in Stresszeiten werden Privatkundeneinlagen angesehen. Für die Kategorie der stabilen Privatkundeneinlagen sind Abflussraten von 5% unterstellt. Für eine Einlage über 100 Euro muss die Bank also 5 Euro vorhalten. In Kombination mit einem anerkannten Einlagensicherungssystem für Kontobeträge unter 100.000 Euro kann die Rate sogar auf 3% sinken. In der Aufsicht kursiert die Überlegung, die Quoten zu erhöhen. Für andere Kundengruppen und Konstellationen gelten schon jetzt vielfach höhere Prozentwerte.

Heißes Eisen

Für Aufsicht und Kreditwirtschaft ist die Frage heikel, wie belastbar bestehende Liquiditätsregeln sind. Daher äußern sich nur wenige öffentlich. Die LCR gilt allen Einschränkungen zum Trotz als sinnvolle Orientierungsgröße. Es kommt aber stark darauf an, wie sich die LCR der einzelnen Bank zusammensetzt. Das Bankenbeben in diesem Jahr hat gezeigt, dass vor allem die Häuser mit einer besonders hohen Einlagenkonzentration gefährdet sind. Bei der Silicon Valley Bank waren das die Gelder von Start-ups. Bei der Credit Suisse Einlagen besonders vermögender und oft ausländischer Kunden.

Als Faustformel gilt: Je finanzaffiner Privatleute sind, desto eher reagieren sie auf Negativ-Schlagzeilen ihrer Bank. Auch eine homogene und untereinander vernetzte Kundschaft kann – siehe Silicon Valley Bank – einen Bank Run begünstigen. Zwar lindert eine Einlagensicherung die Gefahr erheblich, doch zögen manche Menschen im Krisenfall erklärtermaßen auch gesicherte Einlagen ab, wie eine länderübergreifende Umfrage, die mit Unterstützung der International Association of Deposit Insurers (IADI) durchgeführt wurde, unlängst zeigte.

Als eher stabil gelten Einlagen von Unternehmen, allerdings nur bestimmte. Geld auf der hohen Kante werden die Treasurer von Unternehmen schnell abziehen. Anders verhält es sich mit Einlagen, die Banken aus dem operativen Geschäft mit Unternehmen generieren, also vor allem im Zahlungsverkehr. Ein Dax-Konzern kann nicht von heute auf morgen sein komplettes Cash Management auf eine andere Bank verlagern.

Wertverlust von Anleihen

Für die Aufsicht sind aber auch weitere Punkte relevant: So haben Anleihebestände von Banken mit der Zinswende rechnerisch massiv an Wert verloren. Die Bundesbank stellte im Finanzstabilitätsbericht von November Wertverluste in zweistelliger Milliardenhöhe fest. Das ist kein wesentliches Problem, solange die Geldhäuser die Bestände halten – müssen sie jedoch im Falle hoher Abflüsse die Papiere verkaufen, realisieren sie schlimmstenfalls Verluste. Zumindest Großbanken haben jedoch noch andere Möglichkeiten, um sich kurzfristig Liquidität zu beschaffen, zum Beispiel über Repo-Geschäfte, bei denen ein Wertpapier verkauft und zu einem späteren Zeitpunkt zurückgekauft wird. Zudem können sie Staatsanleihen jederzeit bei der EZB hinterlegen.

Eine Schwäche der LCR ist es, dass sie bislang nicht unterscheidet, zu welchem Zeitpunkt innerhalb der 30-Tage-Frist statistisch gesehen die höchsten Abflüsse erfolgen. Banken steuern ihre Liquiditätsrisken intern deshalb zusätzlich mit eigenen Modellen. Jede Krise, sei es Lehman, die Coronakrise, die Russlandkrise oder zuletzt die US-Bankenkrise, liefert Banken dabei wichtige Ankerpunkte, um die internen Modelle neu zu kalibrieren.

Banken rechnen intern strenger

Ein Treasurer einer Bank berichtet, mit deutlich höheren Abflussraten in den ersten fünf Tagen zu kalkulieren. Die in diesem Jahr umgefallenen Banken hätten nicht zu wenig HQLA gehabt. “Sie hatten einfach zu wenig Cash, um die hohen Ausflüsse zu bedienen.” Eine mögliche Reform könnte also einen Bargeld-Anteil für die hochliquiden Aktiva vorschreiben.

Grundsätzlich steht die Regulierung der Liquiditätspolster vor einem ähnlichen Dilemma wie die Regulierung des Eigenkapitals: Sind die Regeln zu lasch, steigt die Gefahr von Krisen, sind sie zu streng, können Banken ihrer volkswirtschaftlichen Funktion kaum nachkommen. Zudem wissen weder Banken noch Aufsicht wirklich, ab welchem LCR-Schwellenwert sich Einleger oder Kapitalmarktteilnehmer Sorgen um die Liquiditätslage ihrer Bank machen und damit beginnen, Geld abzuziehen.

Doch es sind nicht allein die Kennziffern, auf die es ankommt: Banken müssen auch darüber hinaus solide geführt sein. So hatte die Silicon Valley Bank das Risikomanagement vernachlässigt und sich für eine Zinswende verwundbar gemacht, während die Credit Suisse durch eine Serie an Skandalen Vertrauen verspielte.

Aufseher sehen sich daher darin bestärkt, dass es auf die individuelle Sicht auf jede Bank ankommt. “Die eigentlichen Probleme waren Schwächen in der Unternehmensführung, ein schlechtes Aktiv-Passiv-Management, ein schlechtes Management des Zinsrisikos im Bankbuch und ein Mangel an Aufmerksamkeit für die Struktur der Verbindlichkeiten und der Einlagen”, sagte Andrea Enria, Chef der EZB-Bankenaufsicht, in Frankfurt. Eine zentrale Lehre könnte es daher sein, dass die Aufsicht in einzelnen Fällen, wo sie Schwächen in der Liquiditätssteuerung oder zu große Klumpenrisiken in der Einlagenstruktur ausmacht, früher und entschlossener eingreift.

Eine Frage des Vertrauens

Strengere Regeln dürften dazu führen, dass Banken mehr Liquidität halten und somit Stressphasen besser standhalten können. Zugleich ist eine Liquiditätskrise nie der eigentliche Auslöser einer Bankenpleite, wie Experten argumentieren. Vielmehr ziehen Einleger ihr Geld erst ab, wenn sich eine Bank bereits zuvor verwundbar gemacht hat oder das System insgesamt wankt. Sobald das Vertrauen in die Stabilität einer Bank verloren ist und Panik ausbricht, entsteht eine Eigendynamik, die kaum mehr aufzuhalten ist – dann helfen auch keine soliden Kennziffern mehr.

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