Ukraine-Krieg

Der Arbeitsmarkt kann die neue Flüchtlingswelle verkraften

Wegen des Ukraine-Kriegs sind schon jetzt mehr Menschen in die EU geflüchtet als während der gesamten Flüchtlingswelle 2015 und 2016. Daten zeigen und Experten sind überzeugt: Der deutsche Arbeitsmarkt kann das schaffen.

Der Arbeitsmarkt kann die neue Flüchtlingswelle verkraften

Von Anna Steiner, Frankfurt

Der Ukraine-Krieg hat nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) die am schnellsten wachsende Flüchtlingsbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst. In Deutschland werden Hunderttausende erwartet. Es gilt, Lehren aus der Flüchtlingskrise 2015 und 2016 zu ziehen und die Ankömmlinge schnell zu integrieren. Der deutsche Arbeitsmarkt kann das schaffen.

Schätzungen des UNHCR zufolge haben seit Kriegsbeginn mehr als zwei Millionen Ukrainer ihre Heimat verlassen – die meisten in Richtung Polen. In Deutschland hat die Bundespolizei mehr als 80000 ukrainische Flüchtlinge offiziell registriert. Tatsächlich dürften es mehr sein, da sich Ukrainer – anders als Geflüchtete aus arabischen Ländern – 90 Tage lang ohne Visum legal in Deutschland aufhalten dürfen. Am Mittwoch überschritt die Zahl der Geflüchteten aus der Ukraine bereits die Zahl, die ab 2015 innerhalb von zwei Jahren Schutz in der EU suchten.

Nicht nur in der Geschwindigkeit, auch in den Voraussetzungen unterscheiden sich beide Bewegungen. So kamen vor fünf Jahren vor allem junge Männer nach Deutschland – sie machten etwa 70% der Geflüchteten aus. Aus der Ukraine erreichen vor allem Frauen mit ihren Kindern Berlin. Im Zuge der Generalmobilisierung in der Ukraine wurden Männer an der Grenze an der Ausreise gehindert. Daraus ergibt sich ein zweiter Unterschied: Während aus den arabischen Bürgerkriegsländern vor allem Menschen Schutz in Deutschland suchten, die sich ein neues Leben aufbauen wollten, hoffen die ukrainischen Familien, in naher Zukunft in ihre Heimat zurückzukehren.

Zwei Szenarien

Je nach Kriegsverlauf ergeben sich zwei mögliche Szenarien: Im ersten kehrt ein Großteil der Geflüchteten in die Ukraine zurück, weil der Krieg vorüber ist, bevor ihre Integration ein Thema wird. Im zweiten wird die Zahl der Flüchtlinge deutlich steigen. Dann nämlich, wenn der Krieg dauert und Geflüchtete ihre Familien nachholen.

Herbert Brücker, Leiter des Forschungsbereichs „Migration, Integration und internationale Arbeitsmarktforschung“ am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), zeichnet für den zweiten Fall ein positives Bild: „Mittelfristig bin ich optimistisch, dass die Integration der Geflüchteten auch in den Arbeitsmarkt gelingt.“ Der Arbeitsmarkt sei hochdynamisch: „Rein ökonomisch gibt es keine Aufnahmegrenze.“ Die Bundesagentur für Arbeit (BA) registriert Höchststände an offenen Stellen. Durch die Corona-Pandemie sind zudem viele Ausbildungsbetriebe auf der Suche nach Lehrlingen.

Für einen Integrationserfolg spricht auch der Blick zurück. Befragungen des IAB zufolge gingen fünf Jahre nach ihrer Ankunft in Deutschland 50% der Geflüchteten einer Erwerbstätigkeit nach. Weitere 15% befanden sich in Aus- oder Weiterbildung. „Das ist damals recht gut gelaufen“, sagt Brücker. Laut BA-Daten haben knapp 9% der Arbeitslosen einen Fluchthintergrund (siehe Grafik) – darunter fallen jedoch auch Migranten, die nicht aus humanitären Gründen im Land sind. Dem stehen nur gut 6% Bewerber mit Fluchthintergrund für eine Berufsausbildung gegenüber.

Optimistisch stimmt Brücker die Situation der Ukrainer, die bereits länger in Deutschland leben. Das betrifft etwa 320000 Menschen, davon 180000 mit inzwischen deutscher Staatsangehörigkeit. Die Beschäftigungsquote der Ukrainer ohne deutsche Staatsangehörigkeit liegt bei 52% – mit deutschem Pass bei gut zwei Dritteln. „Hinzu kommt, dass die meisten Ukrainer sehr gut qualifiziert sind“, erklärt Brücker. Knapp die Hälfte habe einen akademischen Abschluss. Das ukrainische Schulsystem ist stark auf Berufsbildung ausgerichtet. Ukrainische Kinder besuchen neun Jahre lang allgemeinbildende Schulen und entscheiden dann zwischen Bildungswegen, an deren Ende ein Abitur, ein Abschluss als „Qualifizierter Arbeiter“, „Spezialist“ oder ein Diplom steht. „Gute Bildung begünstigt natürlich die Integration der Ge­flüchteten“, sagt der IAB-Experte.

Da der Anteil von Frauen mit Kindern hoch sein wird, könnte sich allerdings die Familiensituation als Hürde für die Integration erweisen. „Die Frauenerwerbsbeteiligung ist relativ gering“, sagt Brücker. Daher komme es auf zwei Dinge an. „Wir sollten so schnell wie möglich die Kinder ins Bildungssystem integrieren“, erklärt Brücker. Das ermögliche den Eltern nicht zuletzt die Beteiligung am Erwerbsleben. Auch sollten rasch Sprach- und Bildungsprogramme aufgelegt werden, findet Brücker.

Lehren aus der letzten Welle

Und dann gilt es einen – dem IAB zufolge entscheidenden – Fehler aus der Flüchtlingskrise vor fünf Jahren zu vermeiden. „Wir müssen die Verteilung der Geflüchteten klüger gestalten“, sagt Brücker. 2015 seien viele Flüchtlinge in Regionen mit überdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit gestrandet und dort wegen der Wohnsitzbindung auch festgehalten worden. „Es wäre besser, viele der Geflüchteten in prosperierenden Ballungszentren mit guten Arbeitsmarktchancen unterzubringen.“

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