Die Alarmglocken schrillen
Noch stapfen die Gutachter durch zerstörte Häuser im Ahrtal und an der Erft, noch zählen die Versicherer das Schadenvolumen zusammen. Die vorläufige Bilanz: Nach einer aktuellen Einschätzung der BaFin summiert sich der Schaden aus den Hochwassern von Mitte Juli für die deutschen Erstversicherer auf bis zu 5,7 Mrd. Euro. Es ist für die hiesige Branche die bislang teuerste Naturkatastrophe. Doch mit der verheerenden Flutkatastrophe vor der eigenen Haustür drängen sich bereits länger existierende Fragen vehement auf: Was bedeutet der Klimawandel für die Versicherer? Ist die Branche wirklich gewappnet für die Auswirkungen der Erderwärmung, die nach dem vor wenigen Tagen veröffentlichten alarmierenden Bericht des Weltklimarates IPCC schneller und folgenschwerer verläuft als bislang erwartet?
Auch wenn sich zahlreiche Versicherer bereits seit vielen Jahren mit dem Thema befassen, dürfte branchenweit doch einiger Handlungsbedarf bestehen. Denn die Auswirkungen des Klimawandels treffen die Unternehmen an mehreren neuralgischen Punkten: Versicherungstechnik, Risikokapital und Investments.
Die Risiken der Versicherer steigen in mehrfacher Hinsicht: Grundsätzlich nehmen die Schadenereignisse durch extreme Wetterlagen zu. Dazu kommen stärkere Ausreißer in Form von nie zuvor erlebten Zerstörungen – der für die Ahr-Bewohner unfassbare Pegel von über acht Metern ist das dramatische Beispiel. Daran schließt sich für die Assekuranz und ihre Versicherungsmathematiker die Frage an, wie lange die für die Risikoeinschätzung verwendeten Modelle überhaupt noch Gültigkeit haben. Die genauen Folgen des Klimawandels lassen sich mangels vergleichbarer Historie eben nur schwer abschätzen.
Das Problem für die Versicherer beschränkt sich dabei nicht nur darauf, ob sie die versicherten Risiken in ihrem Portfolio angemessen bepreisen. Veränderte Gefahrenlagen durch den Klimawandel könnten auch eine potenziell starke Hebelwirkung auf das Risikokapital haben, warnt die Deutsche Aktuarvereinigung. Denn je volatiler sich Schäden durch Naturkatastrophen gestalten, desto größer könnte der Kapitalbedarf gemäß den Vorgaben von Solvency II ausfallen.
Es geht daneben auch um Reputation: Wenn klimabedingt Assets nicht mehr versicherbar sind oder die Unternehmen die Preise für Versicherungsschutz erhöhen, muss das sauber kommuniziert werden. Das unrühmliche Debakel um die Betriebsschließungsversicherung sollte der Branche ein mahnendes Beispiel sein.
Das andere weite Einfallstor klimabezogener Risiken besteht auf der Aktivseite. Rund 1,5 Bill. Euro verwalten die deutschen Versicherer für ihre Kunden. Zwar rühmt sich mittlerweile nahezu jeder Investmentchef in der Assekuranz, in irgendeiner Weise ESG-Kriterien in der Kapitalanlage zu berücksichtigen, doch das reicht längst nicht mehr aus. In den Portfolien schlummern erhebliche Risiken, die sich aus den global dramatisch steigenden Durchschnittstemperaturen ergeben. Damit setzt sich noch längst nicht jedes Unternehmen intensiv auseinander. Während in anderen europäischen Ländern Klimastresstests von Seiten der Finanzaufsicht bereits eingeführt werden, hinkt Deutschland hinterher. Nationale Studien sind bisher nicht vorgesehen. Die BaFin will das Thema über die europäische Ebene vorantreiben und verweist auf Initiativen der europäischen Aufsicht EIOPA.
Doch die Alarmglocken für die Branche schrillen immer lauter. Selbst die sonst so nüchterne Deutsche Aktuarvereinigung wählt in einem kürzlich, noch vor der Flutkatastrophe veröffentlichten Bericht zu den Auswirkungen des Klimawandels drastische Worte: „Nichtsdestotrotz besteht die Gefahr, dass Extremszenarien die deutsche Versicherungswirtschaft in ihren Grundfesten erschüttern.“ Ein Auslöser solcher Extremszenarien könnte das Erreichen der sogenannten Kipppunkte im System des Erdklimas sein. Und die rücken nach den Erkenntnissen von Klimaforschern immer näher.
Es ist also höchste Zeit für die Versicherungswirtschaft, der Betrachtung der Risiken aus dem Klimawandel in all ihren Facetten höchste Priorität einzuräumen. Für die Unternehmen ist das neben der Pandemiebewältigung, den Niedrigzinsen, der Digitalisierung und dem Thema IT-Sicherheit eine weitere Großbaustelle. Doch intensive Analysen sind unbedingt nötig. Ihre Bedeutung ist existenziell.