Fed könnte Zinstempo der EZB ausbremsen
Fed könnte Zinstempo der EZB ausbremsen
Sollte die US-Notenbank 2024 die Zinsen erst spät oder sogar gar nicht senken, wird dies Auswirkungen auf die EZB haben. Manches spräche dann für ein geringeres Zinstempo – anderes jedoch für das genaue Gegenteil.
Von Martin Pirkl, Frankfurt
Wer wissen will, welche gesellschaftlichen oder popkulturellen Entwicklungen demnächst hierzulande auftauchen könnten, für den lohnt sich oft ein Blick über den Großen Teich. Nicht selten schwappen Trends aus den USA zeitverzögert nach Europa. Auch die Geldpolitik folgt immer wieder diesem Muster. Die wichtigste Notenbank der Welt leitet eine Zinswende ein. Die zweitwichtigste – die Europäische Zentralbank (EZB) – folgt der Fed wenig später. Doch dieses Mal wird es anders sein. Die Zinsen dürften in der Eurozone als Erstes wieder sinken.
Während die EZB weiter stramm Kurs Richtung Zinswende im Juni nimmt, verschieben sich die Erwartungen an Zinssenkungen der Fed immer weiter in die Zukunft. Nach den hohen Inflationszahlen im März ist eine Zinssenkung der Fed im Juni wohl vom Tisch und im Juli ebenfalls zweifelhaft. Der ein oder andere spricht angesichts der hartnäckigen US-Inflation und des immer noch relativ hohen Wirtschaftswachstums gar vorsichtig schon wieder von Zinserhöhungen in den USA. „Je besser und je länger die US-Wirtschaft auf ihrem soliden Wachstumspfad bleibt, desto mehr stellt sich die Frage, ob überhaupt Zinssenkungen notwendig sind“, sagte Thomas Gitzel, Chefökonom der VP Bank, am vergangenen Freitag anlässlich des kräftigen Stellenwachstums in den USA. „Und darüber hinaus gedacht, auch weitere Zinserhöhungen könnten sogar notwendig werden.“
Zweifel an der US-Zinswende
Für ihn ist das bislang nicht das realistischste Szenario. Aber angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung in den USA sollte man sich damit zumindest „intensiver auseinandersetzen“. Mit dieser Einschätzung steht Gitzel noch relativ allein da. Zweifel daran, dass die Fed in den kommenden Monaten die Zinsen senkt, sind dagegen inzwischen unter Volkswirten weit verbreitet. „Es ist durchaus möglich, dass es 2024 keine Zinssenkung in den USA geben wird“, sagt Andrzej Szczepaniak, Ökonom bei Nomura. Diese Einschätzung hat durch Äußerungen des US-Notenbankers Neel Kashkari neuen Auftrieb bekommen. „Wenn sich die Inflation weiterhin seitwärts bewegt, würde ich mich fragen, ob wir diese Zinssenkungen überhaupt durchführen müssen“, sagte er über eine mögliche Lockerung der US-Geldpolitik in diesem Jahr.
Eine Zinswende in der Eurozone ab Juni, während die Fed in diesem Jahr die Füße komplett stillhält, ist für Ludovic Subran eine Horrorvorstellung. „Das wäre furchtbar für die EZB“, sagte der Chefökonom der Allianz zu Bloomberg TV. Er begründete dies damit, dass die USA weiterhin volkswirtschaftlich und an den Finanzmärkten die weltweite Führungsrolle einnähmen. „Was auch immer in den USA geschieht, muss den Ton angeben für das, was in Europa passiert“, sagte Subran. Es sei nicht so, dass die EZB plötzlich an der Spitze stehe und die Richtung vorgeben könne. „Das können wir nicht tun – die Risiken der Finanzströme sind zu hoch.“
EZB unabhängig und doch auch abhängig von der Fed
Die EZB sieht dies anders. „Wir werden entscheiden, welche Maßnahmen wir ergreifen müssen, und zwar unabhängig davon, was meine Kollegen von der Fed entscheiden“, sagte Notenbank-Präsidentin Christine Lagarde.
Darüber, dass sich die EZB von der Fed nicht vom Beginn der Zinswende abhalten lassen wird, sind sich Volkswirte einig. „Wenn sich die makroökonomischen Zyklen entkoppeln, sollten die Notenbanken auch ihre Geldpolitiken entkoppeln“, sagt Szczepaniak. „Bei der aktuellen Datenlage sind Zinssenkungen in den USA nicht drängend, im Euroraum sind sie dagegen überfällig“, sagt Silke Tober, Leiterin des Referats Geldpolitik am Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung.
Ebenso einig sind sich Ökonomen darüber, dass es Auswirkungen auf die Finanzmärkte, die Euro-Wirtschaft und die Geldpolitik der EZB haben wird, wenn die US-Notenbank die eigene Zinswende deutlich in die Zukunft verschiebt.
Risiko für Bankensektor
„Wenn die Fed die Zinswende komplett absagt für dieses Jahr, würde das lange Ende der US-Zinsstrukturkurve ansteigen, die Kurve also weniger invers werden“, sagt Karsten Junius, Chefökonom der Schweizer Bank J. Safra Sarasin. Zehnjährige US-Anleihen würden im Kurs fallen, da ihre Rendite stark ansteigen würde. „Für die Finanzmärkte wäre dies das gefährlichste Szenario“, meint Junius. Zusammen mit einem starken Dollar würde dies zinssensitive Märkte – vor allem aber auch Schwellenländer – stark belasten. „Auch Banken und Immobilienwerte könnten dann unter Druck geraten.“
Ein im Vergleich zum Euro starker Dollar wäre ebenfalls eine Folge einer unterschiedlichen Geldpolitik von Fed und EZB. „Dann hätten wir ein echt substanzielles Zinsdifferential, was zu einer Aufwertung des Dollar führen wird“, sagt ZEW-Ökonom Friedrich Heinemann. Bereits jetzt sind die Zinsen in den USA deutlich über den Leitzinsen im Euroraum, was den Dollar stärkt. „Ich finde es bemerkenswert, dass die Fed früher und stärker als die EZB die Zinsen angehoben hat und nun wohl später die Zinsen wieder senkt. Eine Erklärung dafür ist, dass die Fiskalpolitik in den USA viel expansiver und preistreibender war“, meint Heinemann.
Historischer Vorgang
Welche Auswirkungen eine späte Zinswende der Fed auf die Geldpolitik der EZB hat, darüber gehen die Meinungen auseinander. Einig sind sich Ökonomen darin, dass eine wichtige Rolle dabei spielt, wie groß die zeitliche Verschiebung ist. „Sollte die Fed noch vor der Sommerpause senken, hätte es nur einen symbolischen Charakter, dass die EZB als Erste die Zinswende eingeleitet hat“, sagt Heinemann.
Seit Bestehen der EZB hat die Notenbank zwar schon mehrfach einen anderen Kurs als die Fed gefahren. So senkte sie zwischen 2009 und 2015 die Leitzinsen, während die Fed ihren konstant ließ. Würde die US-Notenbank jedoch der EZB bei einer Zinswende folgen, wäre dies ein bislang historisch einmaliger Vorgang.
Auch wenn die EZB betont, ihre Entscheidungen unabhängig von der Fed zu treffen, wird die US-Geldpolitik Folgen für die Beschlüsse der EZB haben. Denn die Inflationsdaten und die Konjunktur der Eurozone werden von der US-Geldpolitik beeinflusst. Niedrigere Kreditkosten im Vergleich zu den USA wegen eines schwächeren Euro könnten den Inflationsdruck in Europa wieder erhöhen. Zudem könnten höhere Importpreise den Rückgang der Teuerung ausbremsen. „Dies könnte durchaus dazu führen, dass eine Zinssenkung weniger gebraucht wird, als wenn EZB und Fed im Einklang senken“, meint Junius.
Auswirkungen umstritten
ZEW-Ökonom Heinemann kann sich dies ebenfalls vorstellen. Die ersten zwei, drei Zinsschritte der EZB dürften laut seiner Einschätzung von der US-Geldpolitik noch nicht beeinflusst werden. Doch dann könnte es sein, dass die EZB ihr Zinstempo aufgrund des höheren Inflationsdrucks drosseln muss. Oxford Economics ist in einer Modellrechnung zu dem Ergebnis gekommen, dass die Euro-Inflation um rund 0,1% steigen würde, wenn die EZB ab Juni lockert, die Fed im gesamten Jahr 2024 jedoch nicht. Im Zusammenspiel mit den niedrigeren Kreditkosten in Europa könne dies zu einem etwas geringeren Zinstempo der EZB führen. „Es besteht die Gefahr, dass dies die EZB veranlassen könnte, die Zinsen in diesem Jahr weniger zu senken, als wir derzeit erwarten“, schreibt Ricardo Amaro, leitender Ökonom für die Eurozone bei Oxford Economics, in seiner Studie.
Doch es gibt auch Gegenstimmen. Zu ihnen zählt unter anderem der frühere Chefökonom der EZB, Peter Praet. Er warnt davor, dass eine längere Fortsetzung der restriktiven Geldpolitik der Fed zu einer stärker dämpfenden Wirkung auf die europäische Wirtschaft führen könnte. In der Folge wäre der Preisdruck in der Eurozone geringer. Die EZB müsste daher die Zinsen stärker senken, als wenn die Fed parallel zur EZB lockert. „Wenn die Fed nicht bald die Zinsen senkt, dann muss die EZB noch mehr Kürzungen vornehmen, als sie es sonst tun würde, um eine unnötige Rezession zu vermeiden“, sagte Lena Komileva, Chefökonomin bei G Plus Economics, zu Bloomberg.
„Kein schlechtes Szenario für die Aktienmärkte“
Nicht nur bei der Geldpolitik sind die Auswirkungen einer späteren Zinswende in den USA unklar. Dasselbe gilt für die Entwicklung an den Aktienmärkten. Hohe Zinsen machen verzinsliche Anlageklassen wie Anleihen attraktiver für Anleger. Insofern beflügelte die Aussicht auf sinkende Zinsen in den USA die Aktienmärkte. Dämpfer für diese Erwartung führten zuletzt an den Börsen immer wieder zu kleineren Kursverlusten.
Jedoch wäre der Grund für eine aufgeschobene US-Zinswende die weiter überraschend gut laufende Konjunktur in den USA. Dies wiederum treibt die Aktienkurse. „Zunächst einmal wäre eine späte Zinssenkung der Fed daher kein schlechtes Szenario für die Aktienmärkte, vor allem in Europa“, bilanziert Junius.