LeitartikelWirecard-Prozess

Hollywood in Stadelheim

Der seit über zehn Monaten andauernde Strafprozess um den Wirecard-Bankrott liefert viel Material für einen Filmklassiker über Wirtschaftsdelikte nach der Art von Hollywood-Studios.

Hollywood in Stadelheim

Wirecard-Prozess

Hollywood in Stadelheim

Von Stefan Kroneck

Der seit über zehn Monaten andauernde Strafprozess um den Wirecard-Bankrott liefert viel Material für einen Filmklassiker über Wirtschaftsdelikte nach der Art von Hollywood-Studios.

Da möchte keiner freiwillig hin. Die Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim gehört nicht zu den Tourismusmagneten der bayerischen Landeshauptstadt. Und dennoch liefert das Gefängnis derzeit viel Stoff für einen möglichen Filmklassiker nach der Art von Hollywood. Das könnte viele Zuschauer in die Kinos locken. Der Strafprozess um den Zusammenbruch des Zahlungsabwicklers Wirecard in einem unterirdischen Gefängnis-Anbau des Landgerichts München dauert seit über zehn Monaten an. Im größten Wirtschaftskriminalfall der Bundesrepublik Deutschland spielen sich filmreife Szenen ab. Prozessbeobachtern verschlägt das den Atem.

Vor der 4. Strafkammer des Landgerichts liefern sich der Hauptangeklagte, Ex-Vorstandschef Markus Braun, und der mitangeklagte Kronzeuge Oliver Bellenhaus, der frühere Konzernstatthalter in Dubai, ein Duell um die Wahrheitsfindung. Während Bellenhaus sämtliche Anklagepunkte der Staatsanwaltschaft gesteht und Braun dabei schwer belastet, streitet der 54-jährige Österreicher die Tatvorwürfe – gewerbsmäßiger Bandenbetrug, Untreue, Bilanzfälschung und Marktmanipulation – ab. Er hält sich für unschuldig. Dabei verzichtet er auf sein Aussageverweigerungsrecht.

In dieser komplexen Sachlage führt der Vorsitzende Richter Markus Födisch den Prozess routiniert, wenngleich er sich gezwungen sieht, Brauns Anwälte gelegentlich zur Raison zu bringen, die mit einer Flut von Beweisanträgen das laufende Verfahren aushebeln wollen. Für den bisherigen Höhepunkt dieser Auseinandersetzung sorgte eine an die Strafkammer gerichtete schriftliche Stellungnahme des flüchtigen Ex-Vertriebsvorstands Jan Marsalek, die Brauns Verteidiger als Beleg für die Unschuld ihres Mandanten werteten. Das führte zu einem Wortgefecht im Gerichtssaal, bei dem Födisch die Oberhand behielt. Was soll das Gericht mit einem Schriftstück anfangen, welches von einem mit internationalem Haftbefehl gesuchten Tatverdächtigen stammt? Die Posse sorgte zwar für Schlagzeilen, trägt aber nicht zur juristischen Aufklärung des Falls bei.

Fakt ist, dass das Gericht auf Basis der Befragung von bisher einigen Dutzend Zeugen und nach Auswertung zahlreicher Beweismittel an Brauns Darstellung erheblich zweifelt. Gegen ihn besteht weiterhin ein dringender Tatverdacht. Aus diesem Grund lehnte Födisch zuletzt einen abermaligen Haftentlassungsantrag von Brauns Anwälten ab. Wie Bellenhaus sitzt der Ex-CEO seit dem Wirecard-Kollaps im Sommer 2020 in Stadelheim in Untersuchungshaft.

In seinen bisherigen Aussagen vor Gericht verstrickte sich Braun bereits in zahlreiche Widersprüche. Während die Wirtschaftsprüfer von KPMG, der Insolvenzverwalter Michael Jaffé und hausinterne Ex-post-Ermittlungen zum Schluss kamen, dass das dubiose Drittpartnergeschäft (TPA) in Asien nicht existierte, behauptet Braun nach wie vor das Gegenteil. Belege dafür konnte er aber nicht liefern. Beim Thema Marktmanipulation geriet er in Erklärungsnot, als es um eine von ihm selbst verfasste Pflichtmitteilung vom April 2020 zur KPMG-Sonderprüfung ging, bei der er bewusst Kritikpunkte der Prüfer ausklammerte und somit dafür sorgte, die Anleger zu täuschen.

Bei der Vernehmung von ehemaligen Angestellten in Wirecard-Zentralfunktionen stellte sich heraus, dass hausintern niemand sich traute, die Existenz des TPA-Bereichs ernsthaft infrage zu stellen, obwohl auf Nachfragen für Bilanzbewertungen der Vorstand keine brauchbaren Informationen und Belege herausrückte. Offensichtlich herrschte unter Brauns Ägide bei Wirecard ein Klima der Angst. Anders als im Fall des 1994 aufgeflogenen Bilanzbetrugs beim Sportbodenhersteller Balsam brachte bei Wirecard keine Anzeige von Angestellten den Stein ins Rollen, sondern kritische Berichte der Finanzzeitung FT mit Hilfe eines Hinweisgebers. Aufgrund der Dimension der Causa Wirecard wird Födisch noch viele Monate brauchen, bis er die lange Zeugenliste abgearbeitet hat. Das Gericht könnte ein Urteil daher womöglich frühestens in der zweiten Jahreshälfte 2024 fällen, vielleicht sogar erst 2025. Die Öffentlichkeit kann sich bis dahin auf weitere kinotaugliche Ereignisse in Stadelheim einstellen.

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