Tokio

Vom Aussterben bedroht

Elon Musk macht sich Sorgen über fallende Geburtenraten in entwickelten Ländern. Japan setzt dagegen.

Vom Aussterben bedroht

Mit einem Tweet hat Tesla-Chef Elon Musk vor wenigen Tagen den Nerv vieler Japaner getroffen: „Falls nicht irgendetwas dazu führt, dass die Geburtenrate die Sterbe­rate übersteigt, dann wird Japan letztendlich aufhören zu existieren. Dies wäre ein großer Verlust für die Welt“, schrieb Musk und erntete dafür über 100000 Likes. Der Milliardär reagierte auf eine Meldung der Nachrichtenagentur Kyodo, wonach die Bevölkerung im vergangenen Jahr um 644000 – und das elfte Jahr in Folge geschrumpft sei.

Auf Twitter antworteten User mit dem Einwand, dass die Geburtenrate in anderen Ländern wie Südkorea noch niedriger sei als in Japan. Ein User kommentierte, beim jetzigen Tempo würde es immerhin noch 186 Jahre bis zum völligen Aussterben der Japaner dauern. Auch die Finanzzeitung Nikkei griff den Tweet auf und erklärte die niedrige Geburtenrate von 1,4 Kindern pro Frau mit dem hohen Heiratsalter, der teuren Ausbildung von Kindern, der Benachteiligung von Frauen und dem geringen Engagement der Männer bei Hausarbeit und Erziehung. In der Pandemie hätten viele Paare wegen der wirtschaftlichen Unsicherheit und der möglichen Gesundheitsgefahren zudem ihren Kinderwunsch aufgeschoben.

Schon in der Vergangenheit hatte Musk seine Sorge über fallende Geburtenraten in entwickelten Ländern mitgeteilt. Aber sein jetziger Tweet zu Japan spiegelt ein weit verbreitetes Klischee wider: Wegen der schrumpfenden Bevölkerung habe das Land keine Zukunft. Der Titel eines deutschen Buches über Japan brachte dieses Denken auf die Formel „Abstieg in Würde – wenn ein ganzes Land in Rente geht“.

Die ökonomische Wirklichkeit ist jedoch etwas komplizierter. Die Zahl der Einwohner sinkt bereits seit 2011. Darunter leiden vor allem ländliche Gegenden, während die Zahl der Menschen im Großraum Tokio zunimmt. In fast jedem Jahr wuchs das Bruttoinlandsprodukt weiter – sowohl absolut als auch pro Einwohner. Die Zahl der Beschäftigten in Japan erreichte sogar einen Rekordwert.

Viele Ökonomen beachten nur die Erwerbstätigen zwischen 15 und 64 Jahren. Aber die Japaner gehen im Schnitt effektiv erst mit rund 70 Jahren in Rente. Jeder Zweite im Alter zwischen 65 und 69 Jahren leistet noch Erwerbsarbeit. Und selbst wenn die Zahl der Beschäftigten sinkt, lässt sich ein Wohlstandsverlust über eine höhere Produktivität ausgleichen. Tatsächlich automatisieren die japanischen Unternehmen seit Jahren massiv.

Vielen demografischen Betrachtungen fehlt die historische Perspektive. Als Japan Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Industrialisierung begann, zählte die Inselnation gerade einmal 35 Millionen Einwohner. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es schon fast doppelt so viele – 72 Millionen. Den Scheitelpunkt markierte Japan im Jahr 2011 mit knapp 128 Millionen Einwohnern bei einem Ausländeranteil von unter 2%. Laut offizieller Prognose wird die Bevölkerung bis 2060 um mehr als ein Drittel gegenüber heute auf 80 Millionen zurückgehen. Das inoffizielle Regierungsziel besteht darin, diese Schrumpfung bei 100 Millionen aufzuhalten. Wie von Musk gewünscht konzentriert sich die Strategie auf die Erhöhung der Geburtenrate. Zum Beispiel müssen seit April alle Unternehmen ihre männlichen Beschäftigten fragen, ob und wie sie ihre bis zu zwölf Monate Vaterschaftsurlaub nehmen wollen. Neuerdings zahlt die Krankenkasse auch die künstliche Befruchtung.

Einige Twitter-Nutzer reagierten auf die Warnung vor dem Aussterben mit dem Ruf nach mehr Einwanderung. Doch diese Lösung wird sowohl von der Regierung als auch von den meisten Japanern selbst mit großer Skepsis betrachtet, weil die Ausländer japanischen Regeln nicht folgen könnten. Diese Einstellung zeigt sich gerade bei der Debatte über eine Öffnung der Grenzen für Touristen. Viele Japaner fürchten, dass die meisten Touristen die nationale „Maskenkultur“ nicht respektieren werden. Gefühlte 99,9% der Bevölkerung tragen freiwillig weiterhin überall einen Mund-und-Nasen-Schutz. Der führende Politiker der Regierungspartei LDP, Hiroshige Seko, forderte daher eine Maskenpflicht für Touristen, damit es nicht zu Konfrontationen kommt.

              (Börsen-Zeitung,