Autobauer

Warum Toyota die Chip­krise besser meistert

Nach dem Tsunami 2011 baute Toyota zusammen mit ihren Tier-1-Zulieferern eine Datenbank mit 400.000 Einträgen auf. Das System RESCUE bildet alle Lieferketten bis in die dritte Stufe ab.

Warum Toyota die Chip­krise besser meistert

Von Martin Fritz, Tokio

Von allen Branchen hat die weltweite Knappheit an Halbleitern die globale Autoindustrie wohl am schwersten getroffen, da jedes Fahrzeug bis zu 150 Mikrochips benötigt. Sie steuern zum Beispiel das Bremsen, Beschleunigen und den Motor, aber auch die Elektrik von Außenspiegeln und Fenstern. Automotive Forecast Solutions schätzt den Produktionsausfall 2021 durch den Chipmangel auf insgesamt 11,3 Millionen Autos. Kreative Gegenmaßnahmen der Hersteller halfen kaum: Einige bauten die knappe Ware gezielt in ihre margenstärksten Modelle ein oder leiteten die Chips in Absatzmärkte mit hoher Nachfrage um. Andere produzierten auf Halde, um die fehlende Elektronik nachträglich zu installieren. Tesla verzichtete offenbar ganz auf eine elektronische Kontrolleinheit, die als Backup diente, ohne die Kunden zu informieren. Nur Toyota meisterte die Krise durch eine weitsichtige Vorsorge besser als viele Rivalen. In der Folge übernahmen die Japaner die Marktspitze in den USA, erhöhten ihren Absatzabstand zu VW und erwarten den zweithöchsten Gewinn der Firmengeschichte.

Verblüfft rieb sich die Branche die Augen: Hatte nicht Toyota das Prinzip der Just-in-Time-Zulieferung erfunden, dem viele Hersteller nun zum Opfer fielen? Aber viele Autobauer übersahen die Lehren, die Toyota aus der Tsunami-Katastrophe von 2011 gezogen hatte. Damals standen viele Fabriken wegen Teilemangel monatelang still. Ein Grund: Das Beben hatte mehrere Fertigungslinien von Renesas Electronics beschädigt, so dass es nicht genug Mikrocontroller gab. Darauf baute Toyota zusammen mit ihren Tier-1-Zulieferern eine Datenbank mit 400000 Einträgen auf. Das System RESCUE (REinforce Supply Chain Under Emergency) bildet alle Lieferketten bis in die dritte Stufe ab. Zum Beispiel kennt Toyota nicht nur den Zulieferer für die Frontscheinwerfer und der dazugehörigen Linsen, sondern weiß auch, wer dafür Plastik, Farbe und Zusatzstoffe liefert und die Oberfläche beschichtet.

Lehren gezogen

Die wichtigsten Vorprodukte bestellt man seitdem jeweils bei drei verschiedenen Herstellern und verteilt die Aufträge nach dem Schlüssel 60/20/20. Fällt ein Lieferant aus, fahren die anderen beiden ihre Produktion hoch. An Halbleitern legte Toyota einen Vorrat von zwei bis sechs Monaten an, je nach der Zeitdauer von Bestellung bis Lieferung. Zugleich vereinbarte man mit wichtigen Lieferanten eine fortlaufende Kommunikation und eine bevorzugte Zuteilung im Falle einer Verknappung. Darin spiegelt sich ein spezielles Verständnis von Lieferketten wider. „Toyota arbeitet mit Zulieferern langfristig zusammen und verbessert deren Prozesse gemeinsam mit ihnen“, erläutert Roman Ditzer, ein Experte für das Toyota-Prinzip der kontinuierlichen Verbesserung (Kaizen). Die Puffervorräte an Mikrocontrollern lagern beim eigenen Zulieferer Denso, bei Chipproduzenten wie TSMC und Renesas und bei Zwischenhändlern.

Im Gegenzug zahlt Toyota den Partnern einen Ausgleich, indem man jedes Jahr während der Lebensdauer von jedem Fahrzeugmodell eine geringere Kostensenkung für das Bauteil verlangt. Ein weiterer Vorteil von Toyota besteht darin, dass man infolge der Einführung des Hybridmotors 1997 ein eigenes Know-how für Halbleitertechnologie aufgebaut und mit Denso inzwischen einen Chiphersteller im Portfolio der Gruppe hat. Dadurch kann Toyota mögliche Lieferstörungen in der Chipindustrie früher erkennen und darauf schneller reagieren.

Allerdings stößt selbst dieses ausgeklügelte System an seine Grenzen, wenn der Chipmangel sich über längere Zeit hinzieht. Daher schmolzen die Toyota-Vorräte schon im Verlauf des Jahres 2021 dahin. Dadurch produzierte der japanische Branchenriese laut Marktforscher LMC Automotive rund 1,1 Millionen Einheiten weniger und stand letztlich nicht besser da als GM und Stellantis. „Jedoch waren die Gruppen aus Japan und Korea gegen die Krise etwas mehr isoliert“, meinte LMC Automotive. Sie hätten von ihrem direkteren Zugang zu chinesischen Produzenten der typischen Autohalbleiter einfacherer Bauart profitiert. Die weltweite Autoproduktion dürfte voraussichtlich noch das ganze Jahr 2022 unter der Verknappung leiden. Dadurch werden nach einer Schätzung von IHS weitere 7 Millionen Autos weniger gebaut. Gemäß der Prognose von LMC Automotive wird die Weltproduktion von 81,1 Millionen 2021 nur um 6 % auf 86 Millionen Einheiten zunehmen. Denn Großproduzenten wie TSMC konzentrieren sich auf Highend-Chips mit hohen Margen, die einfachen Brot-und-Butter-Controller für die Autoindustrie erhalten keine hohe Priorität.

Auch Toyota wird es daher schwerfallen, die Produktion in diesem Jahr schnell auszuweiten. Nach eigenen Angaben fertigt man schon im März 100000 Autos weniger als vorgesehen. Das Produktionsziel für das auslaufende Geschäftsjahr (bis 31.3.) wurde schrittweise von 9,3 Millionen um insgesamt 800000 auf nun 8,5 Millionen Autos verringert, weil Mikrochips fehlten. Unterdessen zieht der Konzern erste Lehren aus der Dauerkrise. „Toyota stärkt jetzt die eigenen Kapazitäten, weil die Halbleiterabhängigkeit durch Assistenzsysteme und andere Elektronik künftig noch zunehmen wird“, meint Toyota-Spezialist Ditzer. Darauf deute der Einstieg von Denso bei der geplanten Fabrik für 22-28-Nanometer-Chips von TSMC und Sony in Südjapan, die ab diesem Jahr errichtet wird.

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