RECHT UND KAPITALMARKT

Aufsichtsrat muss Fehlverhalten offenbaren

BGH verlangt Selbstbezichtigung, wenn Überwachungspflichten verletzt wurden - Keine allgemeingültigen Kriterien ablesbar

Aufsichtsrat muss Fehlverhalten offenbaren

Von Lutz Englisch und Philipp Mangini-Guidano *)Vor einigen Wochen hatte der Bundesgerichtshof (BGH) Gelegenheit, erneut zu den Pflichten des Aufsichtsrats bei möglicher Organhaftung des Vorstands Stellung zu nehmen: Bereits im Jahr 1997 hatte der BGH in seiner vielbeachteten “Arag/Garmenbeck”-Entscheidung (Az. II ZR 175/95) festgestellt, dass der Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft aufgrund seiner Überwachungsfunktion dazu verpflichtet ist, mögliche Schadenersatzansprüche der Aktiengesellschaft gegenüber Vorstandsmitgliedern eigenverantwortlich zu prüfen und durchsetzbare Schadensersatzansprüche gegen Vorstandsmitglieder (grundsätzlich) zu verfolgen. Nur unter sehr engen Voraussetzungen kann im Einzelfall ausnahmsweise von der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen abgesehen werden; unternehmerisches Ermessen steht dem Aufsichtsrat hierbei (im Kern) nicht zu. Kommt der Aufsichtsrat dieser Pflicht nicht nach, macht er sich gegenüber der Aktiengesellschaft wiederum selbst schadensersatzpflichtig. In der Praxis hat dies in den letzten Jahren zu einer deutlichen Zunahme der Inanspruchnahme von Vorstandsmitgliedern durch Aufsichtsräte geführt. Frage der Verjährung In seiner neueren Entscheidung vom 18.9.2018 (Az. II ZR 152/17) knüpft der BGH nun an die Grundsätze seiner “Arag/Garmenbeck”-Entscheidung an und wendet sich im ersten Teil des Urteils erstmals der bislang noch nicht höchstrichterlich entschiedenen (Folge-)Frage zu, wann die Verjährung von Schadenersatzansprüchen einer Aktiengesellschaft gegen ein Aufsichtsratsmitglied beginnt, das seinerseits gegenüber der Aktiengesellschaft wegen des Verjährenlassens von Organhaftungsansprüchen der Gesellschaft gegen ein Vorstandsmitglied schadenersatzpflichtig geworden ist. Konkret ging es im jetzt entschiedenen Fall – vereinfacht skizziert – darum, dass der Vorstand einer Aktiengesellschaft pflichtwidrig entgegen den Kapitalerhaltungsvorschriften Einlagen an einen Aktionär zurückgewährt hatte; dieser Aktionär war zugleich Aufsichtsratsmitglied. Der Rückzahlungsanspruch gegenüber dem Aktionär war zwischenzeitlich bereits verjährt. Schadenersatzansprüche der Gesellschaft gegen den Vorstand wurden vom Aufsichtsrat nicht geltend gemacht und waren mittlerweile ebenfalls verjährt.Dieses “Verjährenlassen” begründet einen eigenen Pflichtenverstoß des Aufsichtsrats. Der BGH stellt nunmehr höchstrichterlich klar, dass die Verjährung dieses Schadenersatzanspruchs gegen ein Aufsichtsratsmitglied erst mit dem Zeitpunkt der Verjährung des Ersatzanspruches der Gesellschaft gegen das Vorstandsmitglied beginnt, knüpft also den Verjährungsbeginn an den Zeitpunkt der letztmöglichen Geltendmachung des Anspruches gegen den Vorstand an. Bis zu diesem Zeitpunkt, so der BGH weiter, bestünde noch die Gelegenheit, die Schadenersatzansprüche gegen den Vorstand durchzusetzen und einen endgültigen Schadenseintritt abzuwenden.Im zweiten Teil des Urteils wendet sich der BGH sodann der weiteren Fragestellung zu, ob und unter welchen Voraussetzungen Organmitglieder zur Offenbarung des eigenen Fehlverhaltens verpflichtet sind: Der BGH sieht dabei eine Verfolgungspflicht des Aufsichtsrats auch dann, wenn der Pflichtenverstoß des Vorstands mit einer (parallelen) Pflichtverletzung des Aufsichtsrats (d. h. im Regelfall der Verletzung von Überwachungspflichten) einhergeht und die Verfolgung des Ersatzanspruchs gegen den Vorstand durch den Aufsichtsrat zugleich zwingt, den eigenen Pflichtenverstoß des Aufsichtsrats zu offenbaren.Der teilweise vertretenen Auffassung, solche Fälle einer “Selbstbezichtigung” von der Verfolgungspflicht auszunehmen, erteilt der BGH im konkreten Fall eine Absage; er beruft sich auf das Überwiegen der Interessen der Gesellschaft, die besondere Überwachungs- und Schutzfunktion des Aufsichtsrats, der aufgrund seiner Funktion in einem besonderen Pflichtenverhältnis zur Gesellschaft stehe. Dies gilt, wie der BGH in einem obiter dictum kurz anmerkt, wohl selbst dann, wenn die Verfolgungspflicht eine Offenbarung des eigenen strafbaren Verhaltens mit sich bringen würde; der BGH verweist darauf, dass dem gegebenenfalls durch ein strafrechtliches Verwertungsverbot hinreichend Rechnung getragen werden könnte.Die Entscheidung des BGH überrascht nicht – bereits im Jahre 2012 hatte das Landgericht Essen im Fall Arcandor (Az. 41 O 45/10) bezüglich des Verjährungsbeginns der Ersatzansprüche gleichermaßen geurteilt – sie wirft in dogmatischer wie praktischer Sicht gleichwohl einige Fragen auf: Durch den späten Verjährungsbeginn führt das Urteil in der Praxis zu einer signifikanten Verlängerung der Organhaftung bei einer Aktiengesellschaft. Konsequent weitergedacht, führen von den Gesellschaftsorganen wechselseitig nicht geltend gemachte Organhaftungsansprüche aus dem gleichen zugrundeliegenden haftungsrelevanten Sachverhalt zu einer Perpetuierung der Haftung. Es drängt sich daher die Frage auf, ob dies noch dem gesetzgeberischen Grundgedanken entspricht, wie er in der aktienrechtlichen Verjährungsregelung des § 93 Abs. 6 Aktiengesetz zum Ausdruck kommt.Nach den vom BGH in seiner “Arag/Garmenbeck”-Entscheidung entwickelten Grundsätzen ist der Aufsichtsrat verpflichtet, etwaige Ersatzansprüche gegen den Vorstand so bald wie möglich geltend zu machen. Was aber gilt nun in Hinsicht auf mögliche Verzögerungsschäden, die zwischen diesem Zeitpunkt und Verjährungsbeginn eintreten? Kann der vom Aufsichtsrat gegenüber dem Vorstand geltend zu machende Anspruch (gegebenenfalls teilweise) bis zum Eintritt der Verjährung nicht nachgeholt werden, etwa, weil der Anspruch nicht mehr (vollständig) beweisbar ist, nicht mehr (vollständig) durchsetzbar ist, oder wegen zwischenzeitlich entgangener Zinsen, knüpft der BGH für solche Verzögerungsschäden den Verjährungseintritt wohl an den jeweils entsprechend früheren Zeitpunkt an. Dies führt zu einem in der Rechtspraxis nur schwer bestimmbaren gestuften Verjährungseintritt für (Teil-)Ansprüche in derartigen Sachverhalten.Und letztlich zum weiteren Aspekt der Selbstbezichtigung: Umstritten ist bislang die Frage, ob die Rechtspflicht des Aufsichtsrats, Vorstände in die haftungsmäßige Verantwortung zu nehmen, auch vor der Offenlegung eigener haftungsbegründender Pflichtverletzungen, also einer “Selbstbezichtigung” des Aufsichtsrats nicht Halt macht. Der BGH vermeidet hierzu eine klare Festlegung und will dies von den jeweiligen Umständen im Rahmen einer Einzelfallabwägung abhängig machen. Im konkreten Fall hatte das persönliche Interesse des Aufsichtsratsmitglieds an der Nichtoffenbarung des eigenen Fehlverhaltens jedenfalls hinter dem Gesellschaftsinteresse zurückzustehen, genauere und zugleich allgemeingültige Kriterien gibt der BGH der Rechtspraxis allerdings nicht an die Hand. ReformbestrebungenIm Ergebnis bleibt der Aufsichtsrat also gut beraten, seinen Überwachungsaufgaben und -pflichten fortlaufend nachzukommen, etwaige Ersatzansprüche der Gesellschaft gegen den Vorstand zügig zu prüfen und gegebenenfalls so früh wie möglich geltend zu machen. Geht dies mit einer möglichen eigenen Pflichtverletzung des Aufsichtsratsmitglieds einher, steht dem Aufsichtsratsmitglied nicht ohne Weiteres der Gedanke zur Seite, es müsse sich nicht selbst einer Pflichtverletzung bezichtigen. Auch in dieser besonderen Variante des Interessenkonflikts bleibt dem Aufsichtsratsmitglied – je nach Sachverhalt – gegebenenfalls die Niederlegung seines Mandats zu erwägen.Bereits der Deutsche Juristentag 2014 hatte in einem seiner Beschlüsse eine Reform des Verjährungsrechts für die aktienrechtliche Organhaftung angemahnt – das aktuelle Urteil des BGH und seine praktischen Folgen für die Organhaftung von Aufsichtsräten geben diesen Reformbestrebungen neuen Auftrieb.*) Dr. Lutz Englisch ist Partner, Dr. Philipp Mangini-Guidano ist Rechtsanwalt im Münchner Büro von Gibson, Dunn & Crutcher.