Zwischen Fluchtreflex und innovativem Aufbruch
Zwischen Fluchtreflex und innovativem Aufbruch
Wenig komplexe Wertschöpfung wandert aus Deutschland ab. Unternehmen finden Partner in der Start-up-Szene, davon aber noch zu wenige.
Von Heidi Rohde, Frankfurt
Energiekrise, Lieferkettendesaster, Zinswende – und eine in wichtigen globalen Märkten schwächelnde Konjunktur, das hat vielen Unternehmern in Deutschland seit Monaten erhebliche Sorgenfalten auf die Stirn getrieben. Florian Ploner, für den Industriesektor zuständiger Partner bei Deloitte, bringt im Gespräch mit der Börsen-Zeitung die Beschwerden der Unternehmen auf den Punkt: "In vielen Gesprächen zeigt sich, dass der aktuelle Kostenschub die Margen aufzufressen droht. So manches Unternehmen verlagert dann seine energieintensive Produktion ins Ausland und fährt ein deutlich besseres Geschäftsergebnis ein."
"Bestenfalls ein Pflaster"
Der Manager weiß: "Es besteht eine hohe Unsicherheit bei vielen Unternehmen." Drückendstes Problem sind vielfach die hohen Energiekosten. Ein Industriestrompreis wäre hilfreich, allerdings auch nur "bestenfalls ein Pflaster" für etwas, das mehr ist als ein Wehwehchen. Eine Umfrage von Deloitte mit dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) hat gezeigt, dass Unternehmen die Reißleine ziehen: Zwei Drittel der Befragten aus Groß- und mittelständischen Unternehmen gaben an, "in moderatem bis starkem Umfang" Produktion verlagert zu haben. Bisher geht es dabei allerdings eher um wenig komplexe Bereiche der Wertschöpfung. "Da hat Deindustrialisierung schon stattgefunden", so Ploner. 41% der Unternehmen in den Leitbranchen Automobilsektor, Maschinenbau und Industriegüter rechnen demzufolge damit, dass sich die Bedingungen am Standort verschlechtern, 29% darunter zieht es in die USA.
Die aktuelle Entwicklung ist aus Sicht seines Kollegen Alexander Börsch, Chefvolkswirt bei Deloitte, nicht zu verwechseln mit Investitionstrends im Ausland, die es immer schon gab. "Wenn wir fragen, geht es vielleicht einfach um Markterschließung, lautet die Antwort Nein. Es geht klar um Verlagerung." Aber auch wenn Ploner fürchtet, dass sich der Trend fortsetzt und weitere, auch wichtigere Teile der Wertschöpfung abwandern, wird dennoch erkennbar, dass Unternehmen hier zögerlich sind. "Rechtssicherheit und ein gutes Ausbildungsniveau sind Vorzüge, die nicht überall zu finden sind." Allerdings betonen auch die Berater die negativen Wirkungen einer ausufernden Bürokratie. So werde das neue Ungetüm "Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz" im Lichte der ohnehin kraftraubenden Bemühungen um mehr Resilienz als starke Belastung gesehen. "Allerdings ist auch gerade die Anpassung von Lieferbeziehungen bei einer Verlagerung alles andere als trivial", warnt der Experte vor übereilten Umzugsplänen.
"Mehr Rücksprache"
Zielführend für mehr Zuversicht am Standort Deutschland wäre aus seiner Sicht auch "mehr Rücksprache mit der Wirtschaft, bevor neue Auflagen kommen". Deutlich weiter seien andere Länder auch bei einer "Impact-Analyse" neuer Gesetze. "Australien beispielsweise sieht in einem bestimmten zeitlichen Rahmen eine Überprüfung vor und hat für viele Gesetze eine Sunset-Klausel. Gibt es keine Evaluierung und Neufassung, fallen Gesetze auch automatisch wieder weg", ergänzt Börsch.
Der hohe Transformationsdruck, der durch einen Kostenschub, Regulatorik, aber auch durch die erzwungene Anpassung an geopolitische Veränderungen sowie durch technologische Herausforderungen ausgelöst wurde, hat in der deutschen Wirtschaft indes in jüngster Zeit zu mehr Aufbruchstimmung geführt als in vielen Jahren zuvor. So beobachtet Ploner eine zunehmende Kooperationsbereitschaft mit einer wachsenden Start-up-Szene, weil immer mehr deutlich werde, dass künftige Herausforderungen "von einem kleinen Speedboat eben leichter zu bewältigen sind als von einem Tanker alleine". Auf dem Vormarsch sind dabei nach seiner Einschätzung "nicht unbedingt nur Zukäufe, die das eigene Portfolio an einer wichtigen Stelle ergänzen, sondern Unternehmen werden verstärkt zu Kunden von Start-ups, finanzieren sie damit mittelbar und profitieren unmittelbar von deren Innovationskraft".
"Leuchtendes Beispiel"
Doch auch bei der Finanzierung von Innovation made in Germany tut sich einiges. Ein "leuchtendes" Beispiel ist für Florian Nöll, Head of Corporate Development & Innovation bei PwC Deutschland und zuvor von 2013 bis 2019 Vorsitzender des Startup-Verbands, das millionenschwere Investment von SAP, Bosch und der Schwarz-Gruppe bei der deutschen KI-Hoffnung Aleph Alpha. "Dass SAP dort einsteigt, ist nichts Besonderes, aber die Beteiligung von zwei Familienunternehmen, das ist schon ein Signal", findet Nöll. Auch der neue Fonds der KfW, der insgesamt 1 Mrd. Euro Wagniskapital mobilisieren soll, sei ein wichtiger Schritt, befindet der Manager. Dies, zumal es endlich gelungen sei, "auch die Versicherungsbranche an Bord zu bekommen." Mit dabei sind Allianz, Signal Iduna, Debeka, Generali und weitere. Die Branche hatte sich selbst in Jahren, als es in klassischen sicheren Assets wie Staatsanleihen praktische keine Renditen gab, hinter ihren Anlagerestriktionen verschanzt, "wobei sich dann oft zeigte, dass die bestehenden Quoten für alternative Assets gar nicht ausgeschöpft wurden".
Trotz dieser "wahnsinnig tollen Entwicklung" ist bei der Mobilisierung von Wagniskapital erst ein Anfang gemacht. Corporate Venture Capital ist in Deutschland noch ein Mauerblümchen. Seit Mitte vergangenen Jahres erst hochgelaufen, dann im dritten Quartal um ein Fünftel eingebrochen. Das Transaktionsvolumen liegt weit unter dem Peak im vierten Quartal 2021. So gesehen sei der Milliardenfonds ein Tropfen auf den heißen Stein. "Wir haben noch immer erhebliche Finanzierungslücken bei Deep Tech, Biotech ... Das ist ein Marktversagen bei privaten Investoren."