Keine Haftung des Übernehmers gegenüber der Gesellschaft
Von Arndt Stengel und Anja Döring *)Soll derjenige, der eine deutsche Aktiengesellschaft übernimmt, verpflichtet sein, der Gesellschaft Schadenersatz zu leisten für die Nachteile, die dieser als Folge des Aktienerwerbs entstehen? Verlorene Verlustvorträge, eine wegen Kontrollwechsels gekündigte Finanzierung, Vorstandsdienstverträge, die die Vorstandsmitglieder wegen Kontrollwechsels kündigen können, führen mitunter zu erheblichen Nachteilen der Gesellschaft. Soll der Erwerber einer Mehrheitsbeteiligung hierfür haften? Keine ganz abwegige Frage, denn erst kürzlich wurde diese These in einem Beitrag in dieser Zeitung vertreten (Kiem in Börsen-Zeitung vom 19. Juli 2014). Ein RechtsreflexBislang schien festzustehen: Aktien kann kaufen, wer will, ohne damit eine Haftung zu begründen. Börsennotierte Aktien sind darauf ausgelegt, nach Belieben der Marktteilnehmer gekauft und verkauft zu werden, und auch nicht börsennotierte Aktien unterliegen in der Regel keinen Verfügungsbeschränkungen. Nachteile bei der Gesellschaft als Folge des Aktienerwerbs sind ein Rechtsreflex, für den weder der Erwerber noch der Veräußerer verantwortlich sind. Dieser Beitrag soll zeigen, dass dies nach wie vor gilt.Das deutsche Aktienrecht enthält Ausgleichsregelungen für Nachteile, die der Aktiengesellschaft entstehen, wenn sie von einem Aktionär beherrscht wird. Diese greifen erst nach vollzogenem Beteiligungserwerb. Dies ist keine unbeabsichtigte Regelungslücke, sondern Ausdruck einer Wertentscheidung: Die Aktiengesellschaft ist konzernoffen ausgestaltet. Die Gesellschaft und die übrigen Aktionäre haben den Eintritt eines Mehrheitsaktionärs grundsätzlich hinzunehmen. Es gilt der Grundsatz der freien Übertragbarkeit der Mitgliedschaft, der durch eine Ausgleichspflicht des Erwerbers nachhaltig beeinträchtigt würde. Die AusgleichspflichtDas Kapitalmarktrecht hält zahlreiche Sonderregelungen für börsennotierte Aktiengesellschaften bereit. Aktionäre werden rechtzeitig über den Aufbau einer bedeutenden Beteiligung informiert. Bei geplantem oder vollzogenem Erwerb von mindestens 30 % der Stimmrechte muss der Investor allen übrigen Aktionären ein Angebot zum gesetzlich festgelegten Mindestpreis machen. Im Gegensatz dazu sieht das deutsche Übernahmerecht gerade keine Ausgleichspflicht des Erwerbers gegenüber der Gesellschaft vor.Die Ausgleichspflicht wurde im zitierten Beitrag mit einem Verstoß gegen die allgemeine gesellschaftsrechtliche Treuepflicht begründet. Die Treuepflicht ist eine von den Gerichten entwickelte Rechtsfigur, die diejenigen, die an der Gesellschaft beteiligt sind, zur Loyalität verpflichtet. Das Aktienrecht ist im Vergleich zur Kodifizierung anderer Gesellschaftsformen recht ausführlich. Gerade bei der Aktiengesellschaft sind die Gerichte deshalb mit der Treuepflicht sehr zurückhaltend. Sie wenden sie dort an, wo eine Regelung des Gesetzgebers fehlt. Für den hier besprochenen Sachverhalt fehlt aber nichts. Es gibt ein in sich schlüssiges Regelungskonzept aus Konzernrecht und Kapitalmarktrecht. Treuepflicht greift nichtAber auch wenn dies nicht so wäre, griffe die Treuepflicht nicht ein. Sie verbietet es den Aktionären, die Aktiengesellschaft durch Illoyalität zu schädigen, also dadurch, dass der Aktionär keine angemessene Rücksicht auf die Belange der Gesellschaft und der Mitaktionäre nimmt. Aus dem Vorhandensein eines Nachteils allein lässt sich die Pflichtverletzung des Aktionärs nicht ableiten. Es muss eine Wertung hinzukommen: Nur ein zu missbilligendes Verhalten kann treuwidrig sein. Übernahmen und sonstige Kontrollwechsel sind aber nichts, was zu missbilligen wäre oder illoyal erscheint. Sie gehen im Gegenteil mit einer Investition in die Aktiengesellschaft einher, entsprechen also gerade einer Hinwendung zur Gesellschaft. Als GiftpilleSchließlich zeigt auch der Blick auf die Konsequenzen, dass die These von der Ausgleichspflicht nicht haltbar ist. Wer den Kontrollerwerber haften lassen will, müsste dieselben Überlegungen auch bei anderen vermeintlichen “Schädigern” anstellen. Auch der Veräußerer eines Aktienpakets wirkt an dem angeblich treuwidrigen Verhalten mit. Ebenso Vorstand und Aufsichtsrat – dürften diese sich noch positiv zu einer Übernahme stellen oder müssten sie befürchten, als Gesamtschuldner mitzuhaften? Wenn der Nachteil aus wegfallenden Verlustvorträgen und Kontrollwechsel-Bestimmungen liquidiert werden könnte, müsste das auch für anderen Aufwand der Aktiengesellschaft gelten, wie zum Beispiel deren oftmals erhebliche Beratungskosten.Der Rückgriff auf die Treuepflicht würde die Aktiengesellschaften mit einer “Giftpille” versorgen, die Übernahmen abwehrt – allerdings auch solche, die erwünscht sind. Eine derartige gesetzlich nicht geregelte faktische Handelsbeschränkung ist mit einem funktionierenden Kapitalmarkt nicht zu vereinbaren.—-*) Dr. Arndt Stengel ist Partner und Dr. Anja Döring Rechtsanwältin bei Clifford Chance.