Wischgeste mit technischem Charakter
Von Olaf Giebe *)Wer hätte in den 90er Jahren gedacht, dass das Stadtbild einmal von Menschen geprägt ist, die kleine Geräte in der Hand haben, die sie anstarren und auf deren Oberfläche sie herumtippen und -wischen. Smartphones und Tablet-Computer mit Touchscreen haben unser Alltagsleben grundlegend verändert. Natürlich spielen bei einer wirtschaftlich derart wichtigen Entwicklung Patente eine bedeutende Rolle. Es ist daher nicht überraschend, dass in den letzten Jahren Patentverfahren mit Streitwerten in zwei- bis dreistelliger Millionenhöhe der IT-Branche ihren Stempel aufgedrückt haben. Dabei ging es darum, technische Innovationen durch Patentierung zu schützen und sich so Wettbewerbsvorteile zu sichern. Für die ErgonomieAllerdings erfüllen lange nicht alle Patente die hohen Anforderungen des Patentschutzes. Fehlt die sogenannte Erfindungshöhe, ist das Patent nichtig. Dies gilt auch für das Apple-Patent EP 1 964 022. Es betrifft eine Aktion zum Entsperren eines Smartphone-Bildschirms. Dies geschieht durch Wischen mit dem Finger über den Bildschirm, wobei – dies war das wesentliche, streitige Merkmal – ein Entsperrbild, zum Beispiel ein virtueller Knopf, auf dem Bildschirm angezeigt wird und sich entlang eines bestimmten, vordefinierten Pfades mit dem Finger mitbewegt. So wird für den Benutzer ein bewegliches Bedienungselement simuliert, was die Ergonomie des Geräts verbessert.Mit Urteil vom 25. August 2015 hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass Apple für die Entwicklung keinen Patentschutz beanspruchen kann (Az.: (X ZR 110/13). Damit wurde ein seit 2011 anhängiger Streit zwischen dem amerikanischen Konzern und Motorola entschieden. Samsung hatte ebenfalls eine entsprechende Klage erhoben, diese aber später wieder zurückgenommen.Ein wirksamer Patentschutz setzt unter anderem voraus, dass die betreffende Technologie gegenüber dem Stand der Technik – also technischen Lösungen, die bei Anmeldung des Patentes bekannt sind – neu ist und dass sie auf erfinderischer Tätigkeit beruht. Finden sich alle technischen Merkmale des Patents in einem einzigen vorveröffentlichten Dokument, ist es nicht neu. Sind nicht alle Merkmale direkt vorweggenommen, ergeben sie sich aber für einen Fachmann ohne erfinderische Überlegungen (zum Beispiel durch die naheliegende Kombination zweier Dokumente), dann fehlt die erfinderische Tätigkeit. Beides wird vom Patentamt geprüft, bevor das Patent erteilt wird. Auch nach der Erteilung kann jedermann dessen Wirksamkeit durch eine sogenannte Nichtigkeitsklage vor dem Bundespatentgericht in Frage stellen. Eine solche Klage erhob Motorola gegen Apple.In erster Instanz hatte bereits das Bundespatentgericht 2013 das Patent wegen fehlender erfinderischer Tätigkeit für nichtig erklärt (Az.: 2 Ni 59/11 (EP)). Motorola argumentierte dabei insbesondere mit dem Mobiltelefon NeoNode N1, dessen Bildschirm bereits mit einer Wischgeste entsperrt werden konnte. Zwar war die Apple-Erfindung demgegenüber immer noch neu, weil dem N1 das Merkmal des beweglichen Entsperrbildes fehlte. Jedoch lag nach Meinung des Bundespatentgerichts kein patentwürdiger erfinderischer Schritt darin, dieses Merkmal hinzuzufügen.Die Karlsruher Richter haben nun in II. Instanz das Urteil des Bundespatentgerichts im Grundsatz bestätigt. Es gibt aber einen wesentlichen und durchaus interessanten Unterschied in der Begründung. Das Bundespatentgericht hatte das bewegliche Entsperrbild schon deswegen für unbeachtlich gehalten, weil es keinen technischen Charakter habe. Dies hängt damit zusammen, dass Patente nur für Erfindungen auf dem Gebiet der Technik erteilt werden, wobei immer wieder streitig ist, was als “Technik” gilt. Bei Erfindungen, die sowohl technische als auch nichttechnische Merkmale haben, darf die Prüfung auf erfinderische Tätigkeit ausschließlich die technischen Merkmale berücksichtigen. Das bewegliche Entsperrbild hatte nach Meinung des Bundespatentgerichts keinen technischen Charakter, weil es sich (ähnlich wie ein Piktogramm) nur an den Verstand des Benutzers richte, ohne ein technisches Problem zu lösen.Das sieht der Bundesgerichtshof anders, wobei die schriftliche Urteilsbegründung noch aussteht. Nach Auffassung der Bundesrichter hat das bewegliche Entsperrbild zwar technischen Charakter. Im Stand der Technik war aber bereits ein virtueller Schalter in Form eines grafisch dargestellten Schiebereglers bekannt. Demgegenüber in Kombination mit dem N1 war Apples Patent nicht mehr erfinderisch. Nicht nur zum AnfassenGerade bezüglich des technischen Charakters von Wischgesten ist diese Entscheidung aus Karlsruhe richtig und wichtig. Enormer Aufwand wurde und wird in die Weiterentwicklung der Ergonomie von Smartphones und anderen tragbaren Geräten gesteckt – eine junge, noch sehr entwicklungsfähige Technologie. Eine interaktive, die Wischgeste intuitiv unterstützende Anzeige hat – anders als zum Beispiel ein schlichtes Piktogramm – unmittelbaren Einfluss auf die Ergonomie des Gerätes und kann deshalb im Smartphone-Umfeld durchaus als technische Lösung angesehen werden. Technik muss nicht nur zum Anfassen sein!—-*) Olaf Giebe ist Partner der Kanzlei Klaka Rechtsanwälte.