Niedersachsen ist sich seiner Verantwortung bewusst
Die Politik steht in diesem Frühjahr vor einem Bündel neuer Herausforderungen im Bereich der Industriepolitik. Damit die Klimaschutzziele im Industriesektor erreicht werden können, müssen wir jetzt die entscheidenden Weichen für die umfassendste Transformation der Industrie seit Bestehen der Bundesrepublik stellen. Für ein Gelingen des Prozesses hin zu einer CO2-freien Industrie, müssen klare Rahmenbedingungen und Investitionssicherheit für die Unternehmen geschaffen werden.
Die Voraussetzungen zum Jahresbeginn 2022 sind allerdings wenig ermutigend: Der Krieg Putins in der Ukraine und die in der Folge zu Recht ergriffenen Wirtschaftssanktionen führen zu Verunsicherungen bei vielen Unternehmen. Zahlreiche Unternehmerinnen und Unternehmer machen sich Sorgen um die Versorgungssicherheit und weiter steigende Energiepreise. Die zu befürchtenden drastischen Auswirkungen dieses Krieges unterstreichen noch einmal die dringende Notwendigkeit eines beschleunigten Ausbaus der erneuerbaren Energien. Wir müssen alles daransetzen, die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern schnell zu verringern.
Die 2020er Jahre werden in diesem Transformationsprozess besonders schwierig: Es müssen Technologien in den Markt gebracht werden, die noch nicht wettbewerbsfähig sind, die aber für die Dekarbonisierung der Industrie zwingend erforderlich sind. Die Industrie steht vor der Herausforderung, erheblich in neue Technologien investieren zu müssen. Es müssen gleichzeitig hohe Mehrkosten und ohnehin schon sehr hohe Energiepreise geschultert werden.
Ein erfolgreicher Einstieg in die Transformation kann daher nur mit staatlicher Finanzierungsförderung gelingen. Dazu ist aus meiner Sicht ein neues Verhältnis zwischen Markt und Staat erforderlich. Es gilt, bestehende Instrumente der Förderung auszuweiten und neue Wege der Finanzierung zu ebnen. Für den Markthochlauf der Wasserstoffwirtschaft werden wir unter anderem das Instrument der IPCEI-Projektfinanzierung (IPCEI steht für Important Project of Common European Interest) anwenden. Dieses Instrument soll es ermöglichen, Wasserstoffanwendungen im industriellen Maßstab zu erproben und die benötigte Wasserstoffnetzinfrastruktur aufzubauen.
Ich begrüße es sehr, dass sich die Ampelkoalition darüber hinaus für „Carbon Contracts for Difference“ ausgesprochen hat, um die Wirtschaftlichkeitslücke zu schließen. EU-Regionalbeihilfen müssen „Transformationsschmerzen“ kompensieren, und wir brauchen Quoten für grünen Stahl und Beton, um funktionsfähige Märkte für diese Produkte zu initiieren. Instrumente wie der „Klimaklub“ und „Carbon Border Adjustment Mechanism“(CBAM)-Bestrebungen müssen fortgesetzt und aufeinander abgestimmt werden.
Daneben muss der Gesetzgeber mit einem Maßnahmenbündel verschiedene Randbedingungen verbessern: So müssen auch die Regeln für öffentliche Beschaffungen verändert werden. Wir sollten zum Beispiel über einen CO2-Schattenpreis diskutieren, der den Herstellern grüner Industrieprodukte einen erfolgreichen Markteintritt ermöglicht, der aber andererseits öffentliche Auftraggeber finanziell nicht völlig überfordert. Planungs- und Genehmigungsverfahren, insbesondere beim Ausbau der Windenergie- und Leitungsinfrastrukturprojekte, müssen weiter beschleunigt werden. Auch Regelungen zur Deckung des Fachkräftebedarfs und zur beruflichen Qualifizierung müssen angepasst werden.
Und ganz wichtig: Wir brauchen öffentliche Akzeptanz für den Transformationsprozess. Wir müssen überzeugend vermitteln, dass die industrielle Dekarbonisierung ein erfolgreiches Exportprodukt wird. Dies ist ein langwieriger Prozess – vergleichbar mit dem Werben für den Ausbau erneuerbarer Energien. Ich wünschte mir zum Auftakt dieses Prozesses eine konzertierte Aktion der betroffenen Stakeholder Industrie, Energiewirtschaft und Gewerkschaften. Sie alle könnten mit einer „Transformations-Allianz“ gemeinsam mit der Politik einen gesellschaftlichen Grundkonsens stiften, in dem sie Ziele des Prozesses definieren und den Weg und die Instrumente beschreiben, um diese Ziele zu erreichen.
Niedersachsen spielt in diesem Transformationsprozess eine zentrale Rolle. Das Land verfügt über ausgezeichnete Standortfaktoren, und es bildet sektorenübergreifend die gesamte Wertschöpfungskette einer zukünftigen Wasserstoffwirtschaft ab:
Niedersachsen ist das Land der erneuerbaren Energien. Jede fünfte in Deutschland erzeugte Kilowattstunde aus regenerativen Quellen ist „Made in Niedersachsen“. Mit 11,6 Gigawatt installierter Leistung ist Niedersachsen unangefochten Spitzenreiter bei der Erzeugung von Windenergie an Land.
Die niedersächsischen Seehäfen werden künftig eine wesentliche Rolle beim Import und der Verteilung von grünem Wasserstoff und synthetischen Energieträgern spielen. Auch und gerade der jetzt hoffentlich sehr rasch in Wilhelmshaven entstehende LNG-Terminal (LNG steht für Liquefied Natural Gas – verflüssigtes Erdgas) kann dabei perspektivisch ei-ne entscheidende Rolle innehaben.
Wir verfügen im nordwestlichen Niedersachsen über unterirdische Formationen zur Speicherung von Wasserstoff in großen Mengen.
Infolge der großflächigen Umstellung von L-Gas (Low calorific gas) auf H-Gas (High calorific gas) können insbesondere die bestehenden Erdgas-Leitungen im nordwestlichen Niedersachsen kurzfristig für eine weitreichende Verteilung von Wasserstoff nutzbar gemacht werden.
In Niedersachsen sind zahlreiche Industriezweige mit Anwendungsbereichen für Wasserstoff beheimatet. Dazu gehören Hersteller von Schienenfahrzeugen, Schiffen und Flugzeugen, Stahlerzeuger und die chemische Industrie.
Bereits heute werden in Niedersachsen mehrere Wasserstoffprojekte erfolgreich auf den Weg gebracht:
SALCOS – Stahlerzeugung mit Wasserstoff bei der Salzgitter AG: In einer Hochtemperatur-Elektrolyse erzeugter Wasserstoff wird zur Reduktion des Eisenerzes eingesetzt. Die Substitution von Koks durch grünen Wasserstoff führt künftig zur deutlichen Reduktion der CO2-Emissionen in der Stahlproduktion.
Get H2: In diesem IPCEI-Projekt wird die erste öffentlich zugängliche Wasserstoffinfrastruktur aufgebaut. Ein Pipeline-Netz verbindet die Erzeugung von grünem Wasserstoff in Lingen mit industriellen Abnehmern in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen.
Hyways for Future: Das Energieunternehmen EWE will durch die Koppelung der Sektoren Industrie, Energie und Verkehr einen emissionsfreien Verkehr mit grünem Wasserstoff in der Metropolregion Nordwest und Norddeutschland realisieren.
Abfallentsorgung mit Wasserstofffahrzeugen der Firma Faun: Faun entwickelte ein alternatives Antriebskonzept für Müllfahrzeuge und Kehrmaschinen und reduziert dadurch erfolgreich Schadstoffemissionen.
Coradia iLint: Der bei Alstom in Salzgitter entwickelte und hergestellte weltweit erste Brennstoffzellenzug schafft erhebliches CO2-Einsparpotenzial im Schienenverkehr.
Niedersachsen ist sich seiner besonderen Rolle und seiner Verantwortung im Prozess der industriellen Transformation bewusst. Das Ziel der Bundesregierung, bis 2030 Leitmarkt für Wasserstofftechnologien zu werden, wird unser Land tatkräftig unterstützen. Um die von der Europäischen Union (EU) in Niedersachsen geförderten IPCEI-Projekte gegenfinanzieren zu können, müssen wir erhebliche Mittel aus dem Landeshaushalt in die Hand nehmen. Dies fällt uns nicht leicht, weil der Landeshaushalt aufgrund der Auswirkungen der Corona-Pandemie und voraussichtlich auch infolge des Krieges in der Ukraine erheblich belastet wird.
Es wird gelingen
Ich bin zuversichtlich, dass wir für unser mutiges und vorausschauendes Handeln belohnt werden. Die Industrie muss einen wesentlichen Beitrag leisten, dass wir bis 2045 klimaneutral werden. Wir möchten die Menschen in diesem Prozess mitnehmen, die Transformation sozial gestalten und letztendlich den Beweis antreten, dass sich Klimaschutzinnovationen volkswirtschaftlich und betriebswirtschaftlich lohnen. Ich bin überzeugt davon, dass uns dies gelingen wird.