LEITARTIKEL

100 Tage Schlagzeilen

Ob Ursula von der Leyen in letzter Zeit häufiger an ihren Amtsvorgänger Jean-Claude Juncker gedacht hat? Schließlich war der Luxemburger vor gut fünf Jahren auch mit Engagement als neuer EU-Kommissionspräsident gestartet, nur um sich dann sehr...

100 Tage Schlagzeilen

Ob Ursula von der Leyen in letzter Zeit häufiger an ihren Amtsvorgänger Jean-Claude Juncker gedacht hat? Schließlich war der Luxemburger vor gut fünf Jahren auch mit Engagement als neuer EU-Kommissionspräsident gestartet, nur um sich dann sehr schnell als reiner Krisenmanager wiederzufinden, der seinen eigenen Gestaltungsansprüchen in der Folge nie gerecht werden konnte. Stichworte: Griechenlandkrise. Flüchtlingskrise. Brexitkrise. Und von der Leyen? Auch sie hat sich eine ehrgeizige Agenda gesetzt, um der EU einen neuen Schub zu geben. Doch bevor es nun an die konkrete Umsetzung geht, redet ganz Europa nur noch vom Coronavirus und den schlimmen Bildern an der türkisch-griechischen Grenze. Auch die neue EU-Kommission ist 100 Tage nach Amtsantritt wieder als Feuerwehr gefragt, die unerwartet auftretende Brände löschen und das Übergreifen der Flammen möglichst verhindern muss.Dabei kann von der Leyen eigentlich ein recht positives erstes Zwischenfazit ihrer Amtszeit ziehen: Sie hat ein ehrgeiziges Programm vorgelegt, in dem viele inhaltliche Schwerpunkte richtig gesetzt werden. Und sie hat ein ziemliches Tempo bei der Abarbeitung ihrer Vorhaben an den Tag gelegt – allen voran bei ihrem Vorzeigeprojekt, dem “Green Deal”. Bereits elf Tage nach Amtsantritt hat von der Leyen einen umfassenden Plan zum grünen Umbau der europäischen Wirtschaft präsentiert. Nur einen guten Monat später folgte die Investitionsplanung hierzu sowie die Vorstellung eines Fonds, mit dem “Green Deal”-Härten abgefedert werden sollen (Just-Transition-Fonds). Mittlerweile liegen auch schon die Ideen der EU-Kommission für eine neue Datenwirtschaft, für den Umgang mit künstlicher Intelligenz oder seit gestern auch für eine neue Afrika-Partnerschaft auf dem Tisch. Heute folgen neue Strategien für die Industrie sowie für kleine und mittelgroße Unternehmen. Arbeitsuntätigkeit sieht anders aus.Doch zur Wahrheit gehört auch: Von der Leyen und ihr Team haben in ihren ersten 100 Tagen zwar viele Themen angefasst, dabei aber hauptsächlich erst einmal Schlagzeilen und Ankündigungen geliefert, die es jetzt mit Leben zu füllen gilt. Statt konkreter Gesetzesvorlagen kamen aus dem Brüsseler Berlaymont-Gebäude bislang hauptsächlich Strategiepapiere, Weißbücher, Aktionspläne und öffentliche Konsultationen. Im einzig konkreten Gesetzesvorschlag, dem Klimagesetz, fehlte mit dem Emissionsziel für 2030 zudem die wohl wichtigste mittelfristige Steuergröße. Und der Just-Transition-Mechanismus verspricht zwar Hilfen von 100 Mrd. Euro. Doch wer genauer hinschaut, findet erst einmal nur 7 Mrd. Euro an zusätzlichem Geld im EU-Haushalt. Und dies über sieben Jahre gestreckt und unter Vorbehalt einer Budgeteinigung der Mitgliedstaaten.Sehr gemischt fällt auch die erste Zwischenbilanz zur Außenpolitik aus. Von der Leyen hatte ja ausdrücklich versprochen, sie wolle eine “geopolitische Kommission” führen und Europas Stellung in der Welt ein stärkeres Gewicht geben. Im Verhältnis zu Afrika gab es zwar erste positive Initiativen. Doch sowohl im Syrien- als auch im Libyen-Konflikt hinterließ die EU-Kommission in den vergangenen Monaten einen eher hilflosen Eindruck. Ob von der Leyen die Führungsstärke besitzt, in den nächsten Jahren das Verhältnis zu den Großmächten China und USA neu auszuloten, ist derzeit völlig offen. Aber auch gegenüber der Türkei dauerte es nach dem Anzetteln des Grenzkonflikts durch Präsident Recep Tayyip Erdogan lange bis zu einer Reaktion.Die neue Flüchtlingskrise hat die EU-Kommission nämlich auf dem völlig falschen Fuß erwischt. Von der Leyen hatte zwar schon bei ihrer Wahl im vergangenen Sommer einen neuen Vorstoß angekündigt, den erbitterten EU-internen Streit um die Migrationspolitik aufzulösen. In der Brüsseler Behörde wird seither auch schon eifrig an einem neuen “Europäischen Pakt für Migration” gearbeitet. Dieser soll aber erst kurz nach Ostern fertig sein.——Von Andreas HeitkerVon der Leyen hat nach ihrem Amtsantritt viel Tempo bei der Umsetzung ihrer Agenda an den Tag gelegt. Jetzt ist sie erst einmal als Krisenmanagerin gefragt.——