Alarmstimmung in Mailand wegen Börse
bl Mailand
In Italiens Finanzwelt und Politik herrscht Aufregung. Anlass sind Berichte in italienischen Medien, die französisch dominierte Mehrländerbörse Euronext, die vor wenigen Monaten die Borsa Italiana übernommen hat, wolle 200 der 700 Stellen in Mailand streichen. Euronext-CEO Stéphane Boujnah soll zudem den Headhunter Egon Zehnder damit beauftragt haben, schon zum Herbst einen Nachfolger für den seit elf Jahren amtierenden Mailänder Börsenchef Raffaele Jerusalmi zu suchen. Dessen Mandat läuft eigentlich erst im März 2022 aus.
Während die Rechtsparteien Lega und Fratelli d’Italia, die von Anfang an gegen die Übernahme durch Euronext waren, sich bestätigt fühlen, verlangen nun auch die 5-Sterne-Bewegung und der sozialdemokratische PD, die das Projekt überwiegend befürwortet hatten, Aufklärung: Die Franzosen hätten sich nicht an die Abmachungen gehalten und das sei nicht akzeptabel, meint Gianmario Fragomeli, PD-Vertreter im Abgeordnetenhaus. Premierminister Mario Draghi müsse sich einschalten.
Das Thema sorgt für Spannungen in Rom, denn außer den rechtsnationalen Fratelli d’Italia sind alle Parteien an der Regierung unter Draghi beteiligt. Es war der sozialdemokratische Wirtschaftsminister Roberto Gualtieri, der unter Draghis Vorgänger Giuseppe Conte in einer Nacht-und-Nebel-Aktion den Verkauf der Mailänder Börse an Euronext einfädelte – ohne die Konkurrenzangebote der Deutschen Börse und der Schweizer Six zu kennen. Der damalige Eigner, die Londoner LSE, musste sich aus kartellrechtlichen Gründen von der Borsa Italiana trennen.
Euronext hatte die von den Rechtsparteien von Anfang an verlangten verbindlichen Investitions- und Beschäftigungszusagen sowie Autonomiegarantien nicht gegeben. Zur aktuellen Situation heißt es bei Euronext nur, man arbeite mit der Borsa Italiana an der Erstellung eines neuen Strategieplans, der im November vorgestellt werde. Doch Euronext-Chef Stéphane Boujnah hatte schon im Juni von Personalkürzungen gesprochen. Die Italiener sind auch deshalb beunruhigt, weil sie in der Führung des neuen Börsenriesen nur sehr unzureichend vertreten sind, obwohl die Borsa Italiana deutlich mehr als ein Drittel zum Umsatz der Mehrländerbörse beiträgt. Und der künftige CEO wird wohl nur eine Art Country Manager ohne Mandat im Euronext-Verwaltungsrat sein. Jerusalmi saß dagegen im LSE-Aufsichtsgremium.
Mit Argwohn sehen die Italiener auch, dass die Franzosen im Verwaltungsrat der italienischen MTS-Plattform für den Handel mit Staatsanleihen vertreten sind. Und auch um die Nachfolge Jerusalmis gibt es Streit. Während Boujnah mit Barbara Lunghi eine interne Kandidatin favorisiert, ist Italiens Förderbank Cassa Depositi e Prestiti (CDP), die mit 7,3% an Euronext beteiligt ist, für Alessandro Decio, Ex-Chef des staatlichen Kreditversicherers Sace.
Deutsche Börse als Retter?
In italienischen Medien tauchen derzeit sogar Spekulationen auf, die Deutsche Börse könnte die Euronext übernehmen. Gut informierte Mailänder Finanzkreise sehen darin allerdings eine „Nebelkerze“, um von Problemen abzulenken. Sogar die sonst nicht gerade deutschfreundliche Partei Fratelli d’Italia beklagt, dass seinerzeit keine Verhandlungen mit der Deutschen Börse oder mit der Schweizer Six geführt worden sind.