Allianz schrumpft die Industrieversicherung
Von Michael Flämig, MünchenWenn Oliver Bäte über Joachim Müller spricht, kommt er zuweilen ins Schwärmen. Er sei “einer unser besten Manager”, vertraute der Allianz-Vorstandsvorsitzende beispielsweise im vergangenen Februar einer Runde von Analysten an: “Er hat das deutsche Geschäft transformiert.” Seit dem 1. Dezember 2019 hat der ehemalige Sachversicherungschef Deutschland nun eine neue Aufgabe bei den Münchnern. Müller führt den Industrieversicherer Allianz Global Corporate & Specialty (AGCS). Nach einem Jahr zeigen auch die Zahlen, wie tief der neue Chef in die Struktur der Allianz-Tochter eingreift.Der Handlungsbedarf war offensichtlich. Seit fünf Jahren schreibt AGCS versicherungstechnische Verluste – die kombinierte Schaden- und Kostenquote ist also schlechter als 100 % (siehe Grafik). Nur dank der operativen Kapitalerträge blieb in der Summe der Jahre 2015 bis 2019 ein operativer Gewinn übrig. Er fiel angesichts eines Umsatzes von 40 Mrd. Euro mickrig aus: 1 Mrd. Euro.Meist lieferte das Management nachvollziehbare Erklärungen: Erst belastete das übernommene US-Sachversicherungsgeschäft von Fireman’s Fund, im Jahr 2017 schlugen Naturkatastrophen zu, und dann kamen industrielle Großschäden hinzu. Die roten Zahlen 2019 ließen allerdings den Geduldsfaden in der Zentrale reißen. Bäte zitierte mit Blick auf das gesamte Geschäft mit Firmenkunden eine in einen Scherz gekleidete Erkenntnis: “Alle Versicherungsmakler fahren Ferraris, und die Aktionäre erhalten keinen angemessenen Ertrag.”Im laufenden Jahr wird AGCS zwar auch einen versicherungstechnischen Verlust melden. Die Corona-Pandemie schlägt mit hohen Schäden infolge ausgefallener Großveranstaltungen ins Kontor. Ohne die Covid-19-Schäden hätte die Schaden- und Kostenquote aber nach neun Monaten statt 112,7 % nur 100,4 % betragen und damit etwas besser als im Vorjahr gelegen, rechnet AGCS vor. In der Vorjahresperiode waren es 101,2 %. Exit aus TeilsegmentenIm dritten Quartal wird aber vor allem deutlich, dass der neue Vorstand Ernst macht mit dem Kündigen nicht lukrativer Verträge: Der Umsatz sank bereinigt um Wechselkurseffekte um 6 %. Damit enden drei Jahre teils stürmischen Wachstums. Letztmals war der AGCS-Umsatz im zweiten Quartal 2017 zurückgegangen. Underwriting ist also ein Kernpunkt auf Müllers Agenda. Das Großkundengeschäft soll nicht mehr ausgeprägt beziehungsgetrieben sein, sondern auf der Basis aktuarischer Einschätzungen stehen. Welche Risiken nimmt AGCS zu welchem Preis? Diese Grundfrage des Versicherungswesens wird mit mehr Personal angegangen. Bereiche wie aktuarische Modellierung oder Portfoliomanagement erhalten 30 zusätzliche Stellen.Mehr als 500 Mill. Euro Beitragsvolumen hat AGCS aufgeben. Agrarversicherung oder Schiffskasko in den USA wurden komplett gestrichen. In anderen Bereichen wie der europäischen Autozuliefererindustrie ließ Müller das Exposure reduzieren, um beispielsweise nicht zu stark von Rückrufen für mangelhafte Fahrzeuge getroffen zu werden. Hohe SchadenquoteDas Ziel der Aktion: Die deutliche Reduzierung der Schadenquote. Sie ist seit dem Jahr 2014 von 65,2 % über 72,4 % im Jahr 2017 auf 83,0 % im vergangenen Jahr gestiegen. Rückenwind für sein Vorhaben erhält Müller dadurch, dass die Preise für Industrieversicherung branchenweit anziehen wie selten zuvor. Während sich Erhöhungen in der Mitte des Jahrzehnts kaum durchsetzen ließen, beträgt das Plus in den ersten neun Monaten des laufenden Jahres 22 % (siehe Grafik). Für die Multis dieser Welt, die sich versichern müssen, ist dies in Zeiten der Pandemie ein Schlag ins Kontor.Der Treiber aus Sicht der Industrieversicherer: Die Branche kann sich das aktuelle Preisniveau nicht mehr leisten. Beispiel AGCS: Der Konzern musste im vergangenen Jahr 600 Mill. Euro nachreservieren. Laut Allianz-Finanzvorstand Giulio Terzariol hat AGCS damit 10 Mrd. Euro auf der hohen Kante. Allerdings frisst die Tatsache, dass die Schäden teurer werden als ursprünglich gedacht, an diesem Betrag. Allianz-Finanzvorstand Terzariol kalkulierte zu Jahresbeginn ein Wachstum der Schäden von 5 % ein.Müller hat daher auch die Kostenquote im Blick. Die Philosophie: Jeder eingesparte Prozentpunkt verschafft Spielraum. Die Kostenquote stieg von 27,9 % im Jahr 2014 auf 32,8 % im Jahr 2017 und betrug 29,3 % im Jahr 2019. Nun sollen 200 Mill. Euro bis zum Jahr 2024 eingespart werden.Dies bedeutet auch: Arbeitsplatzabbau. Bis 2024 sollen 700 der ehemals 4 450 Stellen wegfallen – ein radikaler Schnitt, wenngleich der Abbau von 300 Stellen vor Müllers Amtsantritt beschlossen worden war. Doch die Veränderungen reichen tiefer. Unter dem Motto “Global First” sollen Prozesse vereinfacht und Produkte zumindest teilweise standardisiert werden. Daher gibt es erstmals ein globales Produktmanagement und eine weltweit agierende Vertriebs- und Marketingeinheit. Die Zweigstellen in Neuseeland, Dubai und Russland sind geschlossen, auch das US-Büronetz wurde ausgedünnt.Ein weiterer Ansatz von Müller: Mehr Eigenverantwortung und damit auch eine kulturelle Transformation. Hierarchien geraten ins Wanken. So gibt es keine Länderchefs mehr und statt sieben nur sechs Regionaleinheiten. Ein Teil des Managements musste seinen Hut nehmen und Verantwortung für Fehler tragen – so wie nun auch Entertainment-Chefin Lauren Bailey, die zum Jahresende geht. Der Vorstand wurde ebenfalls kräftig durchgemischt, Müller hat externe Expertise von Axa XL und der New Reinsurance Company angeworben.Die Anstrengung soll im nächsten Jahr erste Früchte tragen. Terzariol hat Anfang 2020 die Devise für die Schaden-Kosten-Quote 2021 ausgegeben: “Ich würde definitiv erwarten, dass wir unter 100 % liegen werden.” Persönlich sei er der Ansicht, man sollte sogar 97 % erreichen können. Müllers Vorgänger Chris Fischer Hirs hatte Anfang 2019 noch ein Unterschreiten von 95 % angekündigt (vgl. BZ vom 16.1.2019).Die Mutter Allianz erwartet allerdings auch, dass AGCS – allen Großschäden zum Trotz – weniger volatil liefert. Mehr Rückversicherung ist unausweichlich, doch geht sie naturgemäß auf Kosten der Marge.Die Strategie hat Müller (49) auf umfassende Resultate im Jahr 2024 gepolt. Für Bäte (55), dessen Vertrag September 2024 ausläuft, wäre es ein willkommener Anlass, dann nochmals in Schwärmen zu kommen.