„Am Ende wird der Verbraucher den Preis dafür bezahlen“
Andreas Hippin.
Herr Nusseibeh, wenn man heutzutage in die Zentrale einer Londoner Bank oder Versicherung kommt, fühlt man sich wie bei Greenpeace oder Amnesty International. Hat sich ESG (Nachhaltigkeit) durchgesetzt?
Meine Sorge war immer, dass Leute ESG als Geschäft betrachten könnten, bei dem man Produkte erzeugt, bei denen alle Kreuzchen an der richtigen Stelle sitzen, um sie zu vermarkten. Wenn man diesen Weg beschreitet, weigert man sich weiter, über verantwortungsvolles Investieren nachzudenken. Dadurch wird das System nicht verbessert. Für uns ist ESG kein separates Produkt.
Was ist es dann?
Wir glauben, dass das, was wir machen, moralisch gut ist. Aber grundsätzlich ist es aus unserer Sicht auch ein gutes Geschäft. Wenn man über Investmentthemen streitet, sollte es um die Frage gehen, ob sie aus finanzieller Sicht einen Sinn haben.
Bedarf es dazu des ganzen Virtue Signallings?
Oft werden dabei die wirtschaftlichen Gegebenheiten missverstanden. Ein Beispiel: Frauen im Board. Sogenannte Virtue Signaller sagen gern, Diversität der Geschlechter ist wichtig, weil sie andere Sichtweisen ins Board bringt oder weil Unternehmen mit Frauen im Board besser darin sind, Risiken zu vermeiden.
Wie sehen Sie das?
Ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis innerhalb der Boards ist grundsätzlich richtig. Viele Studien zeigen, dass divers besetzte Boards besser funktionieren. Wenn man aber etwas tiefer gräbt, stellt man fest, dass das typischerweise keine wissenschaftlichen Studien sind. Ich würde behaupten: Wer annimmt, dass eine Frau und ein Mann, die beide auf eine Spitzenuniversität gegangen sind und anschließend im Handelsraum einer Großbank saßen, zu anderen Ergebnissen kommen allein aufgrund ihres Geschlechts, der unterstellt, dass es einen genetischen Unterschied zwischen den Geschlechtern gibt. Darüber wird wissenschaftlich ja weiter viel und kontrovers diskutiert.
Was spricht für mehr Frauen im Board?
Es gibt sehr viele gute Gründe. Was man aus finanzieller Perspektive sagen kann, ist, dass es ökonomisch Sinn ergibt, eine vielfältige Belegschaft zu haben. Wenn Sie den betriebswirtschaftlichen Standpunkt einnehmen, dass der CEO eines Unternehmens versucht, Arbeit zu den niedrigsten Stückkosten einzukaufen, um die Marge zu maximieren, dann ist es ineffizient, absichtlich nur die Hälfte des verfügbaren Angebots zu berücksichtigen. Wie gesagt: Das ist, zugespitzt, ein rein finanzielles Argument für ein vielfältiges Board.
Kognitive Diversität ist gleichermaßen wichtig. Aber um diese im Unternehmen oder in der Vorstandsetage zu etablieren, braucht man Leute mit unterschiedlichem Bildungshintergrund sowie unterschiedlicher Lebenserfahrung. Studien zu kognitiver Diversität, sowohl kulturell als auch ethnisch, zeigen, dass diese einen Mehrwert bieten und den Horizont weiten – interessanterweise, weil sie eine Art Zusammenprall der Kulturen bewirkt. Dieser Konflikt führt zu besseren Ergebnissen. Viele Leute, die Virtue Signalling betreiben, reden darüber nicht.
Wie ist es mit Minderheiten?
Mit der ethnischen Diversität im Board verhält es sich ähnlich. Es ist schwer, einen Vorteil darin zu sehen, wenn die Bevölkerung eines Landes zu 99 % einer einzigen Ethnie angehört. In London wurden 40 % der Bevölkerung nicht in Großbritannien geboren. Warum sollte man sie nicht in Erwägung ziehen?
Es gibt nicht viele schwarze Fondsmanager, oder?
Völlig richtig, das ist ebenfalls ein Thema in unserer Branche. Mit Blick auf unser Unternehmen haben wir einen hohen Anteil nichtweißer Mitarbeiter. Zugleich besteht die Gefahr in der Annahme, dass alle Gruppen gut repräsentiert seien. So haben wir zwar einen hohen Anteil von asiatischen Mitarbeitern, aber nicht genug schwarze Mitarbeiter.
Woran liegt das?
Ein Problem ist, dass schwarze Mitbürger nicht die Chancen bekommen, die andere Bevölkerungsgruppen erhalten. Warum sollte ein schwarzer Mitbürger auf die Universität gehen wollen, wenn die Statistik zeigt, dass ihr Bevölkerungsanteil danach nicht genug verdienen wird, um die enormen Schulden abzuzahlen, die während des Studiums aufgelaufen sind? Also ist die schwarze Gemeinschaft im Pool der Hochschulabsolventen, aus dem Finanzunternehmen rekrutieren, unterrepräsentiert – was längerfristig zu einer Unterrepräsentation innerhalb der Branche führt.
Wie kann man das ändern?
Wir haben ein spezielles Programm an den Start gebracht, mit dem wir uns an Highschools in benachteiligten Stadtteilen wenden und so etwas wie eine Ausbildung anbieten. Wir tun das übrigens nicht unter dem Gesichtspunkt der Wohltätigkeit, sondern wir suchen Talente. Wenn Teilnehmer nach einem Jahr Interesse zeigen und wir auch denken, dass sie das Potenzial haben, geben wir ihnen ein weiteres Jahr als Praktikanten oder zwei und unterstützen sie finanziell dabei, eine Qualifikation als CFA zu erlangen. Zudem gibt es wichtige Brancheninitiativen. Beispielsweise haben wir die Charta „Race at Work“ in Großbritannien unterzeichnet und unterstützen unter anderem das Programm „100 Black Interns“.
Oft entscheidet, auf welcher Schule man war.
Sie haben völlig recht. Als ich in die City gekommen bin, sind alle auf die gleichen Schulen und danach auf die gleichen Universitäten gegangen. Ich könnte von mir behaupten, selbst ein Zuwanderer zu sein, aber ich bin auf eine hervorragende Schule und danach auf eine exzellente Universität gegangen. Ich habe im Verlauf meiner Karriere einmal bei einem Vermögensverwalter in einer Abteilung gearbeitet, in der alle auf die gleiche Schule gegangen sind. Das ist doch völlig verrückt. Da gibt es auch keine Diversität des Denkens.
Reicht es, gleiches Geld für gleiche Arbeit zu zahlen?
Wir bezahlen gleiches Geld für gleiche Arbeit, ungeachtet der Hautfarbe oder des Geschlechts. Aber das ist nicht gleichbedeutend mit absolut null geschlechtsspezifischem oder ethnischem Lohngefälle in der Branche. Um dies zu erreichen, brauchen wir mehr Frauen in leitenden, besser bezahlten Positionen, etwa im Vertrieb oder als Portfoliomanagerinnen. Da versuchen wir besser zu werden. Aber das ist kein Virtue Signalling, weil wir nicht betonen, wie gut wir sind, sondern immer wieder sagen, was wir alles nicht geschafft haben. Alle anderen sind dabei angeblich sehr erfolgreich. Ich frage mich immer, wie sie das machen. Es ist unmöglich.
Wie sehen Sie die Erfolgsgeschichte von ESG?
Der Haupttrend ist, dass die Wichtigkeit von ESG-Faktoren für Investments allgemein anerkannt wurde. Innerhalb dieses Trends ist Europa mit Sicherheit weiter als das Vereinigte Königreich, weil man dort die politische Entscheidung getroffen hat, diesen Trend so weit wie möglich voranzutreiben, weil es einfach das Richtige ist. In Großbritannien haben die Vermögensverwalter diesen Trend erkannt und unterstützen ihn, weil sie sehen, dass sich der Markt in diese Richtung entwickelt.
Und wo stehen Sie?
Es gibt einen kleineren Trend, dem wir uns zurechnen und der darin besteht, zu sagen: Wir verstehen die Obsession mit Taxonomien und die Idee von ESG als separatem Produkt nicht. Denn wir haben immer gedacht, dass die Integration von ESG und Stewardship der einzige Weg ist, zu investieren.
Warum?
Es geht dabei doch um langfristige Renditen. Es gibt ein Zusammenspiel von langfristigem Investieren, Stakeholdern und guten finanziellen Resultaten. Wenn die Branche das nicht berücksichtigt, denkt sie zu kurzfristig und verlässt sich am Ende nicht auf ihr Können, sondern auf ihr Glück. Wir begrüßen, dass ESG nun ideologisch für gut befunden wird. Die Regulierung in Europa ermutigt die Leute, diesem Trend zu folgen. Deshalb unterstütze ich sie voll und ganz. Großbritannien sollte das auch tun.
Was halten Sie von Taxonomien?
Je komplizierter die Taxonomie ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass man damit davonkommt, überall ein Häkchen zu setzen, ohne wirklich etwas zu tun. Das ist eine allgemeine Feststellung, kein Kommentar zu den Unterschieden zwischen Europa und Großbritannien. Sehen sie sich die Prinzipien für verantwortliches Investieren der Vereinten Nationen (UNPRI) an. Da gibt es 3000 Mitglieder, die überall ein Häkchen gesetzt haben. Das ist einfach nicht möglich. Wir haben fünf Jahre gebraucht, um dahin zu kommen. Aber trotzdem machen alle ständig ihr Kreuzchen an der richtigen Stelle. Darin besteht die Gefahr einer sehr strikten Taxonomie.
ESG ist eine große Sache. Indexanbieter haben entsprechende Produkte aufgelegt. Es gibt allerlei Gütesiegel.
Das Problem mit der faktorbasierten Geldanlage besteht darin, dass die Welt viel komplizierter ist, als sich auf diese Weise darstellen lässt. Wir haben festgestellt, dass wir die besten finanziellen Ergebnisse mit Unternehmen erzielen können, die sich im Lauf der Zeit verbessern. Egal ob bei der Governance oder bei der Nachhaltigkeit, oft sind die Fragen weitaus schwieriger, als die Leute denken. Aber heutzutage hat man sich daran gewöhnt, zu wetten, statt zu investieren. Die Leute wollen ihr Geld auf einen Index setzen, weil es eine billige Art und Weise ist, eine Wette zu tätigen. Der Markt geht rauf, der Markt geht runter. Man macht keinen Unterschied. Und es gibt diesen Glauben, dass man auf Grundlage von Faktoren wetten kann. Man setzt also darauf, dass ESG steigt oder fällt. Aber ESG funktioniert nicht so. Es kommt auf die Zwischentöne an.
Haben Sie dafür Beispiele?
Manchmal ist es gut, wenn das Amt von Chairman und CEO von einer Person wahrgenommen wird, manchmal ist es sehr schlecht. Es hängt vom Unternehmen ab. Auch Dinge, die gut aussehen, sind es nicht immer. Elektromobilität ist ein gutes Beispiel. Die Batterie ist ein echtes Problem. Ist Volvo ein grünes Unternehmen, weil es Elektrofahrzeuge herstellt? Wie sieht es mit den Praktiken der chinesischen Mutter aus? Es ist kompliziert. Deshalb sind Factor Investing, Taxonomien und andere Ankreuzübungen so gefährlich. Sie ermöglichen es, Produkte hervorzubringen, ohne nachzudenken.
Wäre eine lockerere Taxonomie in Großbritannien ein Problem?
Mir macht es nichts aus, wenn Großbritannien mehr Geschäft anzieht. Meine Sorge ist, dass ein Geschäft entsteht, bei dem man Vorgaben abhakt, weil man weiß, dass man damit Produkte auf den Markt bringen kann, aber nicht wirklich unter diesen Gesichtspunkten investiert.
Müssen nicht viele Berater und Anwälte bezahlt werden, um die Einhaltung von ESG-Kriterien zu attestieren?
Um das Thema ESG herum entwickelt sich eine ganze Industrie. Am Ende wird der Verbraucher den Preis dafür bezahlen. Die Frage ist: Wie viel zusätzliche Rendite ergibt sich daraus? Wir haben sehr gute Beweise dafür, dass Good Governance funktioniert, und dafür, dass das Delta in G das Alpha vergrößert. Wir haben gute Belege dafür, dass gute soziale Auswirkungen die Rendite steigern, und wir versuchen, das Thema tiefer zu durchdringen. Wir haben zudem Belege dafür, dass Firmen, die auf unser Engagement reagiert haben, besser am Markt abschneiden als andere Unternehmen aus der gleichen Branche. Das können wir zeigen.
Was ist die Idee des Stewardship?
Dafür muss man einen Schritt zurücktun: Was macht man eigentlich, wenn man an öffentlichen Märkten investiert? Man stellt niemandem Kapital zur Verfügung. Das ist ein Missverständnis des Markts. Unternehmen kommen nur selten an den Markt, um Kapital aufzunehmen. Was kaufe ich eigentlich, wenn ich Aktien von BMW oder irgendeiner anderen Gesellschaft erwerbe? Die kurzfristige Sicht ist, dass ich eine Wette eingehe – auf das Verbraucherverhalten, auf das Verhalten der Aktie oder des Marktes insgesamt. Aber das ist eine Wette, keine Investition. Wenn man investiert, kauft man die Idee nachhaltiger Geschäftspraktiken. Nur durch Stewardship kann ich Einfluss auf meine Beteiligungen ausüben und versuchen, am Ende die richtigen Ergebnisse zu erzielen.
Was halten sie vom neuen Stewardship Code in Großbritannien?
Er wird die Unternehmen zum Nachdenken anregen. Es gibt darüber hinaus auch einen Generationenwechsel. Die junge Generation hat andere Ideen. Es dauert nur eine Weile, bis sie es ins Board schafft. Der Stewardship Code fordert längerfristiges Denken. Wir unterstützen das sehr und haben lange daran mitgearbeitet.
Der FRC, der über die Einhaltung des Stewardship Code wachen soll, galt bislang als zahnlose Aufsicht.
Das wird sich ändern. Der FRC und die Leute dort nehmen diese Sache ernst. Stewardship ist von entscheidender Bedeutung. Meine Sorge ist, dass bei der Offenlegung von Nachhaltigkeitsinformationen im Finanzdienstleistungssektor (SFDR) eine Referenz dazu fehlt. In diese Richtung wollen wir den Markt bewegen.
Lassen sich Investitionen in China unter ESG-Gesichtspunkten rechtfertigen?
Uns interessiert Veränderung. Ein Unternehmen mit bislang schlechter Governance, das sich ändern will, fällt darunter. Wenn eine Firma die Arbeitsbedingungen ihrer Mitarbeiter verbessern will, wären wir bereit, uns zu engagieren. In China muss man auch berücksichtigen, in welchem Verhältnis ein Unternehmen zur Regierung steht. Es ist ein marxistisch-leninistisches System. Wer Xi Jinpings Buch gelesen hat, weiß das. Selbst seine Wirtschaftspolitik erinnert an Lenins Papier über die Neue Ökonomische Politik.
Trotzdem vermeiden sie China nicht?
Die Frage ist nicht, ob man investiert oder nicht investiert. Das ist so wie bei den Ölgesellschaften. Wenn man nicht in sie investiert, kann man behaupten, dass man zu den Guten gehört. Aber dadurch ändert sich bei den Ölgesellschaften nichts. Es wird sie weiterhin geben. Wenn man etwas ändern will, sollte man ihre Aktien kaufen und sie davon überzeugen, dass sie sich ändern müssen. Divestment ist keine Lösung.
Das Interview führte