An "Kleinvieh" hatte das Establishment kein Interesse
Nach intensiven Verhandlungen setzt Georg Leber den ersten Tarifvertrag zur Vermögensbildung im Baugewerbe durch. Auf Basis des neuen “312-Mark-Gesetzes” zahlen die Arbeitgeber fortan 9 Pfennig pro Stunde für die Vermögensbildung der Arbeitnehmer, die ihrerseits 2 Pfennig vom Lohn drauflegen müssen. “Das, was sich hier als Pfennige je Stunde ausdrückt und weswegen manche Kritiker Zweifel haben, das sind eben Pfennige, die bei Milliarden Stunden, die in einem großen Gewerbe jährlich geleistet werden, (…) rasch Milliarden D-Mark in Bewegung bringen”, schreibt der Gewerkschaftsvorsitzende, SPD-Politiker und spätere Bundesminister “Schorsch” Leber.So beginnt anno 1965 die Geschichte der ING-DiBa, nacherzählt in einem von der führenden Direktbank herausgegebenen, lesenswerten Jubiläumsbuch mit dem Titel “Anders – 50 Jahre neues Denken”. Die Bauarbeiter brauchten damals ein Sparkonto für ihre vermögenswirksamen Leistungen, doch die Bankenbranche schien an “Kleinvieh” nicht interessiert zu sein. Walter Hesselbach hingegen, Chef der jungen gewerkschaftseigenen Bank für Gemeinwirtschaft (BfG), erkannte, welche Geschäfts- und Ertragschancen die Masse der Pfennigbeträge auf Dauer bieten würde, zumal wenn das steuerlich begünstigte Sparen über das Baugewerbe hinaus Schule machen sollte. Also plante der “rote Abs” zusammen mit Leber die Gründung einer neuen Bank. Im Oktober 1965 war es so weit. Als juristischer Mantel diente die BfG-Tochter Kreditbank Hagen, die in BSV:Bank für Sparanlagen und Vermögensbildung umbenannt wurde und im Volksmund unter “Leber-Bank” firmierte. Das Establishment der Banken und Sparkassen ging beim Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen gegen den Neuling vor, weil diesem mit unzulässigen Geldgeschenken – IG-Bau-Mitglieder erhielten bei Kontoeröffnung eine Gutschrift von 5 D-Mark – und mit gewerkschaftlicher Macht die Kunden zugeführt würden. Die Bankgründung wurde zum Politikum und zum Thema im Bundeskabinett. Doch die Beschwerde wurde zurückgewiesen, Deutschlands größte Direktbank war geboren – damals als “Briefbank”, denn an Internet und Smartphone war noch lange nicht zu denken, selbst über einen Telefonanschluss verfügten nur 14 % der deutschen Haushalte.Die wenigen Beschäftigten, erinnert sich eine Mitarbeiterin der ersten Stunde, konnten den Kundenansturm kaum bewältigen. Schuster, Schreiner, sogar einen Artisten habe die “Bank ohne Banker” angestellt, die Kontonummern und Beträge in Rechenmaschinen tippten und Lochstreifen stanzten. Nach dem ersten Geschäftsjahr zählte der Vorläufer der ING-DiBa mehr als 200 000 Sparkonten. Ein halbes Jahrhundert später hat die Bank, die in den Achtzigern zeitweise in die Turbulenzen um das gewerkschaftseigene Wohnungsunternehmen Neue Heimat geriet und von 1998 bis 2003 schrittweise von der niederländischen ING übernommen wurde, 8,3 Millionen Kunden und 3 400 Beschäftigte und kann sich “die drittgrößte Privatkundenbank Deutschlands” nennen.