ANSICHTSSACHE

Atemlosigkeit im Vierteljahrestakt

Börsen-Zeitung, 18.11.2016 Analysten, Investoren und Journalisten fordern zu Recht ein Reporting, das sie in die Lage versetzt, Lage und Ausblick eines Unternehmens einzuschätzen. So berechtigt, nachvollziehbar und auch im Interesse des Unternehmens...

Atemlosigkeit im Vierteljahrestakt

Analysten, Investoren und Journalisten fordern zu Recht ein Reporting, das sie in die Lage versetzt, Lage und Ausblick eines Unternehmens einzuschätzen. So berechtigt, nachvollziehbar und auch im Interesse des Unternehmens liegend der Wunsch nach Transparenz ist: Er hat über die letzten Jahre auch zu Fehlentwicklungen geführt, die teils die ursprüngliche Intention – Entscheidungsunterstützung, Rechenschaft und eine nachhaltig profitable Geschäftsentwicklung – konterkariert.Da sind zum einen die immer weiter ausufernden Geschäftsberichte, deren Umfang nicht selten die Marke von 300 oder 400 Seiten überspringt. Sie enthalten alles, was das Herz begehrt, Bilanz, Ergebnisrechnung, Lagebericht, Strategie, Investor-Relations-Bericht; ferner Darstellung von Unternehmensstruktur und Geschäftsausrichtung, Porträts der maßgeblichen Akteure, Bildstrecken und vieles mehr. Oft waren diese Bücher (und sind es teils immer noch) enzyklopädische Imagewerke und Erfolgsberichte in einem; kiloschwere, schwer zugängliche, meist redundante Papierkonvolute, in denen in unserer digitalen Welt kaum jemand mehr blättern will, einfach weil diese Informationen viel leichter abrufbar und kundenfreundlicher aufbereitet im Netz zu finden sind. Aufs Netz greift heute auch jeder zurück, der sich aktuell über ein Unternehmen informieren möchte. Geschäftsberichte alter Prägung sind ein Produkt aus einer Vergangenheit, in der es einen hochausgebildeten digitalen Medienmarkt noch nicht gab. Eine gut geführte Webseite zusammen mit einer exzellenten Investor-Relations-App macht die Zahlenwelt und interessengruppenspezifische Inhalte viel leichter zugänglich; sie sind das moderne Pendant zu einem herkömmlichen Geschäftsbericht. Schädliche QuartalsdenkeZum anderen wurde die Frequenz der Berichterstattung ausgebaut mit teils ebenfalls stattlichen Quartalsberichten. Dies hat zu einer gewissen Atemlosigkeit im Vierteljahrestakt geführt, die von der Konzentration auf das Wesentliche ablenkt und für die in den Vereinigten Staaten schon das Kampfwort “quarterly capitalism” eingeführt wurde mit der Konnotation: Hier leiden Substanz und ruhige Fortentwicklung von Unternehmen unter einem schwindelerregenden Dauerkarussell immer neuer Quartalszahlen und -prognosen.Hilft dieser Berichtsrhythmus den Investoren? Das wird inzwischen stark bezweifelt. Schon der Kay-Report (London School of Economics) kommt 2012 zu dem Schluss: “Quartalsergebnisse werden stark durch Zufallsschwankungen bestimmt oder, schlimmer noch, durch die Versuche des Managements, diese Schwankungen zu neutralisieren.” Die Profitabilität vieler Unternehmen könne sinnvollerweise aber nur über eine Zeitspanne von mehreren Jahren zutreffend eingeschätzt werden. Eine aktuelle Studie von Ernstmann (TU München) bestätigt die negativen Wirkungen der Quartalsberichterstattung. Diese erhöhe den Druck für Sachverhaltsgestaltung, sprich: Es häuft sich Bilanzpolitik, um kurzfristige (Prognose)ziele zu erfüllen, statt beständig den langfristigen Erfolg anzusteuern.Deshalb ist es zu begrüßen, wenn nun in der Finanzkommunikation eine Gegenbewegung eingesetzt hat, die den Unternehmen erlaubt, sich auf das wirklich Relevante zu konzentrieren, ohne wesentliche Abstriche bei der Zahlentiefe und Transparenz. Strenge Ad-hoc-Berichtspflichten stellen ohnehin sicher, dass kursrelevante Informationen unmittelbar zu veröffentlichen sind und niemand bei Vorlage der Zahlen alle sechs Monate überrascht wird. Das International Accounting Standard Board arbeitet daran, überbordende Veröffentlichungspflichten in den internationalen Rechnungslegungsvorschriften (IFRS) einzudämmen und damit den Weg zu Geschäftsberichten freizumachen, die kompakt und prinzipienbasiert über Finanz-, Vermögens- und Ertragslage der Unternehmen berichten. Und die Deutsche Börse verpflichtet – der EU-Gesetzgebung folgend – die notierten Unternehmen nicht mehr dazu, einen vollumfänglichen Quartalsbericht zu veröffentlichen. Lieber mehr RoadshowsDiese Spielräume nutzt nun auch die Allianz. Statt eines IFRS-Finanzberichts veröffentlichen wir eine vereinfachte kurze Mitteilung zum ersten und dritten Quartal mit den wichtigsten Zahlen und ihrer Kommentierung. Wer weitere Details sucht, findet sie in den mitgelieferten Tabellen oder in der unverändert ausführlichen Analystenpräsentation. Wir tun das, weil wir mit vielen anderen überzeugt sind, dass die ausführlichen Berichte nichts zur Stärkung des Kapitalmarkts beitragen. Stattdessen möchten wir mehr auf Roadshows und ähnlichen Veranstaltungen auf strategische Themen eingehen. Diese kommen manchmal zu kurz, wenn eine Quartalszahlendiskussion entbrennt ohne schlagende Relevanz für die langfristige Performance unserer Aktie. Gleichzeitig haben wir den Halbjahresbericht um 50 % im Umfang reduziert und werden das auch beim Jahresbericht so tun. Damit folgen wir dem Trend der Entschlackung des Geschäftsberichts, wie es Siemens bereits im letzten Jahr vorgemacht hat.Die Rückmeldungen zu dieser Initiative unserer Stakeholder war überwiegend positiv; rund 80 % der Befragten befürworteten die Kürzungsmaßnahmen. Manche Analysten ermutigten uns gar, ganz auf eine Berichterstattung über das erste und dritte Quartal zu verzichten, zumal einige schon dazu übergegangen sind, ihre Prognosemodelle im Halbjahresrhythmus an aktuelle Zahlen anzupassen. Vielleicht wird sich diese Sichtweise durchsetzen, auch wenn die Deutsche Börse derzeit noch eine Quartalsmitteilung verlangt.Wir meinen, mit unserem Ansatz eine gute Balance gefunden zu haben zwischen Relevanz und Transparenz der Finanzkommunikation. Die Kürzungen schaffen Raum für Diskussionen über die wirklich wichtigen langfristigen Entwicklungen, die unserer Aktie Schub verleihen.—-Dieter Wemmer ist CFO der Allianz Gruppe.In dieser Rubrik veröffentlichen wir Kommentare von führenden Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus Politik und Wissenschaft.——–Von Dieter WemmerAusufernde Finanzkommunikation schafft keine Transparenz. Wir folgen dem Trend zur Entschlackung des Geschäftsberichts.——-