Auf der Suche nach dem Konsens
Mobilität – das ist ein Begriff, der den Lebensstil der Gegenwart sehr treffend kennzeichnet. Wer nicht mobil ist, bleibt in seinen Handlungsmöglichkeiten beschränkt. Für die Gesellschaft ist Mobilität unabdingbare Voraussetzung für die Teilhabe an einer vernetzten Wirtschaftswelt. Sie bringt Menschen und Waren in Bewegung, sie ist Wachstumsmotor und Basis der wirtschaftlichen Entwicklung. Und: Je enger die Wirtschaft global zusammenrückt, desto wichtiger wird die Mobilität, der Austausch von Rohstoffen, Gütern, Waren und Ideen. Der anhaltende Trend zur internationalen Arbeitsteilung und zu einer Just-in-Time-Ökonomie vervielfacht die Warenströme, weil sich Wertschöpfungsketten immer wieder neu zusammensetzen und sich ihre Wege und Verbindungen im mobilen Organismus der Welt bahnen.Ökonomisch gesehen stehen die Signale auf Expansion. Während die Wirtschaft im vergangenen Jahr weltweit schwächelte, kommt die Konjunktur 2013 wieder in Fahrt. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag DIHK rechnet für das laufende Jahr mit einem Wachstum der Weltwirtschaft von 3,9% gegenüber 3,3% im Vorjahr. Der Welthandel soll sogar um 5% zulegen. Klagen werden lauterDer Standort Deutschland ist mit seinen vielfältigen wirtschaftlichen Verflechtungen, seiner anhaltend hohen Exportleistung und exponierten Rolle als Drehscheibe des europäischen Verkehrs dazu prädestiniert, an diesem Wachstum in besonderem Maße zu partizipieren. Vorausgesetzt, aus dem Transitland Nummer1 wird nicht das Stauland Nummer1. Immer öfter gerät der Güterfluss ins Stocken, immer lauter werden die Klagen von Industrie und Handel über die Risiken einer vernachlässigten Infrastruktur, die das Wirtschaftswachstum anhaltend ausbremsen könnte. Seit langem fordern Wirtschaftsvertreter und Verbände, darunter auch die Handelskammer Hamburg, den dramatisch wachsenden Investitionsstau in der Verkehrsinfrastruktur aufzulösen. Was dringend gebraucht wird, ist ein Gesamtkonzept für eine bezahlbare Schieneninfrastruktur. Die Stellen, an denen der Verkehr stockt, sind hinlänglich bekannt, sie ziehen sich am Rhein entlang, sie konzentrieren sich um die Wirtschaftsmetropolen und großen Seehäfen. Hamburg kann ein Lied davon singen. Der Flaschenhals an einem der wichtigsten Umschlagplätze der Welt droht die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts einzuschränken und wachstumshemmend zu wirken.In vielen anderen Ländern wird Deutschland für seine Straßen, Schienen, Wasserwege und Umschlagplätze beneidet. Doch hierzulande ist die gesellschaftliche Wahrnehmung für den Stellenwert der Infrastruktur begrenzt. Der Nutzen von Infrastrukturprojekten ist diffus, die Schlussfolgerung, dass die Büchersendung am gleichen Tag Infrastruktur braucht, ist den Menschen nur schwer zu vermitteln. Um die Akzeptanz für Infrastrukturprojekte zu erhöhen, ist es unabdingbar, besser als bisher zu erklären, welche Bedeutung die Mobilität von Gütern für Arbeitsplätze, Lebensqualität und den Wirtschaftsraum Europa hat, und die Bürger schon in der Frühphase umfassend in die anstehenden Entscheidungen einzubinden.Mit Blick auf weiter steigende Transportintensitäten und -weiten sind Engpässe auf allen Verkehrsadern programmiert. Reserven bei gleichzeitig hoher Umwelt- und Klimaverträglichkeit liegen hauptsächlich im Schienengüterverkehr. In seltener Eintracht verkünden Vertreter jeder politischen Couleur, dass die verkehrs- und umweltpolitischen Herausforderungen ohne eine stärkere Einbindung der Schiene nicht zu bewältigen sind. Auch die EU-Kommission will bis spätestens 2030 einen Großteil des Güterverkehrs jenseits der 300-Kilometer-Marke auf die Schiene verlagern, um damit die Kohlendioxid-Emissionen um bis zu 60% zu reduzieren, ohne dabei das Transportvolumen einzuschränken. Und das Umweltbundesamt kommt in einer Engpassanalyse zu dem Ergebnis, dass die Stärken des Schienenverkehrs ausgebaut werden müssten, um die anderen Verkehrsträger zu entlasten und die negativen ökologischen Auswirkungen der Verkehrszuwächse auf ein Minimum zu beschränken.Und in der Tat: Der Schienenverkehr befindet sich europaweit im Aufwind. Vor allem die Öffnung nach Osten, das wirtschaftliche Andocken der Türkei, Russlands und der Staaten der ehemaligen Sowjetunion wirken als Triebfedern der Entwicklung. Als untrüglicher Indikator gilt das Engagement internationaler Investoren und Kapitalanleger. Sie sehen die Schiene als Alternative für Landverkehre und vor allem wegen der zuverlässigen und klimaschonenden Transporte weltweit langfristig auf Wachstumskurs. Ein paar WermutstropfenGute Aussichten für die Schiene und den Güterverkehr – wenn nicht ein paar Wermutstropfen die günstige Prognose trüben würden. Zum einen wird das von allen Seiten beschworene Ziel, einen einheitlichen europäischen Eisenbahnverkehrsraum zu schaffen, immer wieder konterkariert. Die Umsetzung der europäischen Richtlinie zur Interoperabilität, die einen sicheren und durchgehenden Zugverkehr in ganz Europa gewährleisten soll, zerfasert sich in unzählige, voneinander zum Teil deutlich abweichende nationale Ausführungsbestimmungen.Während die Zulassungspraxis hierzulande durch Personalengpässe, Doppelprüfungen und Mehrfachschleifen zu Verzögerungen und kaum mehr vertretbaren Kosten führt, tun sich andere europäische Länder mit der Zulassung sehr viel leichter und das, obwohl sie doch eigentlich nach den gleichen Regularien prüfen und die Loks und Waggons dann auf einem Schienennetz unterwegs sind. An einem effizienten Zulassungs- und Überwachungssystem, das mit Augenmaß angewendet wird, führt kein Weg vorbei.Zum anderen wird der Schienengütertransport insbesondere auf den Nord-Süd-Korridoren und rund um die Ballungszentren durch immer mehr Nadelöhre ausgebremst. Als Unternehmen mit Sitz am Verkehrsknotenpunkt Hamburg hat die VTG das Problem ständig vor Augen: Speziell im Hafenbereich und seinen Zulaufstrecken im Hinterland behindern überlastete Trassen den zügigen Güterfluss, der parallel fahrende, stark vertaktete Personenverkehr konkurriert um die gleiche Infrastruktur. Ein effizientes Nebeneinander von Güter- und Personenverkehr erfordert eine stärkere Entflechtung der Netze. Gefragt sind Kapazitätserhöhungen im Netz durch intelligente Zugsteuerungen. Und der forcierte Ausbau von Hochgeschwindigkeitsstrecken sowie das ein oder andere Milliarden verschlingende Leuchtturmprojekt sind wenig hilfreich, wenn dabei die Anbindung vieler Regionen an eine leistungsfähige Infrastruktur für den Güterverkehr auf der Schiene vernachlässigt wird.Wie der menschliche Organismus ohne die weit verzweigten Kapillaren nicht überlebensfähig wäre, brauchen die internationalen Hauptverkehrsrouten regionale und lokale Verästelungen. Insgesamt stehen zusätzliche Kostenbelastungen, regulatorische Fehlleistungen und Zusatzanforderungen sowie ein Flickenteppich von einzelnen Infrastrukturmaßnahmen einer dynamischen Entwicklung im Schienengüterverkehr noch zu oft im Wege.So unübersehbar trotz aller noch bestehenden Hemmnisse die Vorteile der Schiene sind, an einer Achillesferse ist der Schienenverkehr angreifbar geworden: der Lärmbelastung. In Kooperation mit Komponentenpartnern forscht auch die VTG intensiv an neuen Technologien, um den Geräuschpegel nachhaltig zu senken. Eine wirksame Lärmreduzierung kann jedoch nur durch Maßnahmen innerhalb des Gesamtsystems aus Rad, Gleisen und Schienenbett erreicht werden. Hier bedarf es einer konzertierten Aktion aller Beteiligten – Waggonbauer, Infrastrukturbetreiber, politische Entscheidungsträger – über Ländergrenzen hinweg.Auf dieser Basis sollte zügig ein effektives Maßnahmenbündel umgesetzt werden, das eine direkte Förderung von lärmmindernden Maßnahmen am Fahrzeug einschließt. Für Letzteres würden sich die öffentlichen Investitionen vergleichsweise bescheiden ausnehmen. Doch sie kämen tatsächlich allen Europäern zugute – und würden die öffentliche Akzeptanz des Güterverkehrs immens steigern. Das wäre ein Beispiel für einen gesellschaftlichen Konsens über die Mobilität der Zukunft, die dem Lebensstil der Gegenwart gerecht wird.—Von Heiko Fischer Vorstandsvorsitzender der VTG Aktiengesellschaft