Aus einer Zeit "umstürzlerischer" Veränderungen

Der Dax entstand 1988 im Zuge einer generellen Neugestaltung des Börsenwesens - Umgang der Menschen mit neuen Produkten und Techniken ist entscheidend

Aus einer Zeit "umstürzlerischer" Veränderungen

Die Geschichte des Dax beginnt mit dem Börsenumbau 1985/1987 im Gefolge der Feierlichkeiten zum 400-jährigen Bestehen der Frankfurter Börse 1985. Erst mit diesen Baumaßnahmen wurde die Möglichkeit geschaffen, den Übergang von der analogen zur digitalen Börsenwelt als seriöse Option überhaupt ins Auge zu fassen, eine Option, die damals eher den Charakter einer illusionären Vision als einer realistischen Planungsbasis hatte. Vorher mussten enorme Hindernisse im föderalen, maklerbasierten Präsenzbörsensystem mit Handelskammerdominanz überwunden werden. Börsenrecht ist Länderrecht, und selbst Bundesländer ohne eigenen Börsenplatz wollten eingebunden werden. Schlag auf SchlagNachdem diese Voraussetzungen für eine generelle Neugestaltung der Börsenlandschaft geschaffen waren, ging es zum Ende der achtziger Jahre Schlag auf Schlag, und die Börse des 20. Jahrhunderts mit viel Geschrei, mit per Kreide handgeschriebenen Kursen auf Schultafeln, ebenfalls handgeschriebenen Schlussscheinen und amtlicher Kursfeststellung für das zweistündige Börsengeschehen wurde zum Auslaufmodell. Dabei muss man sich vor Augen halten, dass es vor 25 Jahren so gut wie kein Mobiltelefon gab. PC, Laptop, iPad waren Fremdworte. Als modernste Kommunikationsmittel galten Faxgeräte in der Größe eines Kleiderschranks. Von dieser Ausgangsbasis aus und im Windschatten einer erwarteten, aber keinesfalls sicheren Entwicklung mussten viele Konflikte “analog gegen digital” gelöst werden, die der Öffentlichkeit weitgehend verborgen blieben, es aber an Heftigkeit nicht fehlen ließen.Für die heutige Zeit bemerkenswert dürfte auch sein, dass diese Aufgaben von einer Handvoll Verantwortlicher aus dem Ehrenamt, also ohne Erfolgsprämie oder Honorar, außerhalb der jeweiligen Hauptverantwortlichkeit und gelegentlich zu selbst für Bankvorstände ungewöhnlichen Tageszeiten angegangen wurden. Wie dem auch sei, bald gab es die ersten Touchscreens, auf denen die amtlichen Kurse der Maklerkammer und wenig später auch die “verteufelten” außerbörslichen Freiverkehrs-/Freimaklerkurse aller Beteiligten angezeigt wurden. Das Kursinformationssystem KISS, das im weiteren Verlauf vom Interbanken-Informationssystem IBIS abgelöst wurde, war geboren, es ging später in Xetra auf.Andere für damalige Verhältnisse “umstürzlerische” Veränderungen wurden angegangen:- die Zusammenlegung von acht Kassenvereinen,- die Vereinigung der beiden konkurrierenden Rechenzentren,- die Trennung der Börsen von der Trägerschaft der Handelskammern,- die Gründung der Deutschen Terminbörse GmbH durch sechs Banken,- die Gründung der Deutschen Börse AG,- die Gründung der Deutsches Börsenfernsehen GmbH,- die Installation des Geregelten Marktes und später des Neuen Marktes,- die Einführung von Wertpapierleihe und Repo-Geschäften,- die Abschaffung des Devisen-Fixing und der amtlichen Börsenkurse etc. pp. Kein Stein auf dem anderenKurz gesagt, es blieb bei der Neugestaltung des Börsenwesens kaum ein Stein der alten Strukturen auf dem anderen. In diesem Kontext der generellen Neuausrichtung wurde die publizitätswirksame Schaffung des Dax eigentlich als ein bedeutsames Nebenprodukt, eher als eine Art “Beifang” angesehen.Mit der Einführung der Computer- und Internetwelt wurde das Börsenwesen weitgehend angloamerikanisiert, und in den beiden Finanzzentren dieser Länder gab es bereits bekannte und fortlaufend berechnete Indizes, die der Information und dem Geschäft gleichermaßen dienten: den Dow Jones und den Financial Times Index “Footsie”. Mit den Nobelpreisen von 1990 und 1997 wurden die Portfoliotheorie und Optionspreismodelle hoffähig, damit wurde das Messen, Wiegen, Zählen und Vergleichen zum Tagesgeschäft und in Kombination mit dem Börsenterminmarkt zum Treibsatz für alle möglichen Index-Dispositionen. Erstmals konnte man in Deutschland einen Markt über den Index per Termin kaufen und leerverkaufen.Eine Arbeitsgruppe von Fachleuten hatte im Jahr 1987 hervorragende Vorarbeit im Auftrag des Börsenvorstands (öffentlich-rechtlich) geleistet, so dass der Dax am 1. Juli 1988 starten konnte und die Börsen-Zeitung- (früher Hardy-) und FAZ-Indizes ablöste bzw. verdrängte. Da gleichzeitig die alten und neuen Medien – auch nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Blocks – die Börsen verstärkt entdeckten, wurde der Dax schnell zum Synonym für Finanzmarkttendenzen und zur indirekten Messlatte des wirtschaftlichen Befindens der Republik. Ein Name mit XBevor es dazu kommen konnte, brauchte das Kind einen einprägsamen und medienwirksamen Namen. Etwa eine Woche lang nach der Erstberechnung wurde der neu geschaffene Laufindex unter dem Namen DAI veröffentlicht, so wie man eben Abkürzungen produzierte. Dabei war vor allem das “D” zunächst umstritten, gab es doch börsenrechtlich keine deutschen Kurse, sondern lediglich die unter Aufsicht der regionalen Maklerkammern errechneten und veröffentlichten amtlichen Kurse der acht Börsen. Daneben gefielen sensiblen Zeitgenossen der “japanische” Klang und die optische/akustische Nähe zum Börsenkürzel für Daimler nicht.Hier liegt der Grund, warum der Autor gebeten wurde, an dieser Stelle etwas zur Geschichte des Dax zu schreiben: Er hat damals angeregt, den letzten Buchstaben von “Index” zu wählen. Damit war erstens eine gedankliche Brücke zu einem neben Bulle, Bär und Ibis sympathischen Tier, aber auch zu einem vernachlässigten Buchstaben geschaffen, der in “Exchange” die neue Börsenwelt prägte. Bourse, Portefeuille, Parkett und Prämie beispielsweise wurden von Exchange, Portfolio, Floor und Option Price abgelöst, Englisch wurde definitiv zur grenzüberschreitenden Börsensprache. Dass das “X” seither in vielen Börsen-Fachausdrücken eingesetzt wurde, bestätigt aber zweitens auch die These von der Symbolhaftigkeit dieses Buchstabens im Börsenumfeld. Kollateralschäden möglichWenn also heute in den Medien davon gesprochen wird, der Dax (Dachs) sei ausgesetzt, sollte man sich erkundigen, ob es sich um das Börsentier oder um Meister Grimbart aus der Fabel handelt. Zum 25. Geburtstag kann man dem Dax aufgrund der Erfolge der Vergangenheit nur gratulieren, und da er bereits eine Dax-Familie um sich weiß, gilt das auch für seine Ableger. Er steht heute wohl auch ein wenig für die Fähigkeit eines Finanzmarktes, sich bei Bedarf notfalls gegen massive Widerstände zu reformieren. Dabei dürfte auf die dem Fabeltier zugeschriebenen Eigenschaften – bedächtig, ruhig, nachdenklich – bei künftigem Handlungsbedarf durchaus erkennbar Bezug genommen werden.Dass die neue Finanzmarktarchitektur, aus deren Mitte der Dax als Mosaikstein hervorgegangen ist, nicht nur eine Sonnenseite hat, ist in den letzten Jahren schmerzhaft bewusst geworden. Es sollte jedoch immer bedacht werden, dass nicht die neuen Produkte und Techniken in erster Linie auf den Prüfstand gehören, sondern der Umgang der Menschen mit ihnen, egal ob es sich dabei um den handelnden, den beaufsichtigenden, den gesetzgebenden, den kommentierenden oder den ausbildenden Faktor Mensch handelt. Die Finanzmärkte neuer Prägung können neben allen Stärken natürlich auch Kollateralschäden (ebenfalls erstmals in den neunziger Jahren in den Sprachgebrauch eingeführt) nach sich ziehen.Der Dax dürfte jedoch von diesen Gedanken weit entfernt weiterhin seine Bahn ziehen und im Jahr 2038 “im besten Mannesalter” immer noch als Indikator gefragt sein.—-Der Autor gehörte von 1981 bis 1990 dem Präsidium des Frankfurter Börsenvorstandes an und war von 1990 bis 2005 stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der Frankfurter Börse/Deutsche Börse AG. —Von Manfred Zaß, langjähriges Vorstandsmitglied der Deutschen Girozentrale, bis 2002 Vorstandsvorsitzender der DekaBank