Bilanzen erhalten 360-Grad-Sicht auf Nachhaltigkeit
Klimakrise, demografischer Wandel, wachsende soziale Ungleichheit – allein diese drei Themenfelder zeigen überdeutlich, dass rein kaufmännisch geprägte Governance-Prinzipien zu kurz greifen, um den Erfolg eines Geschäftsmodells dauerhaft sicherzustellen. Und tatsächlich hat sich die Mehrzahl der börsennotierten Unternehmen längst darangemacht, zusätzlich zu ihrer betriebswirtschaftlichen Leistung auch die sozialen und umweltbezogenen Wirkungen zu steuern, die in ihren Wertschöpfungsketten entstehen. Doch woran erkennen die Verantwortlichen, dass sie an den richtigen Themen arbeiten? Und wenn ja, woher wissen sie, ob ihre aktuellen Anstrengungen bereits reichen, um die drei Handlungsfelder Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt in die Balance zu bringen? Große methodische LückeNoch tut sich hier eine große methodische Lücke auf. Denn woran es bis dato mangelt, sind unternehmensübergreifende Reporting-Standards. Dies gilt sowohl für die Messung der Faktoren, die soziale und ökologische Wirkungen hervorrufen, als auch für die monetäre Bewertung der Wirkungen. Letzteres ist unabdingbar, um die sozialen und umweltbezogenen Leistungen auch in der Bilanz darzustellen. Dies ist essenziell, um auch aus kaufmännischer Sicht eine Wissensbasis zu schaffen, die es erlaubt, Geschäftsstrategie und Risikomanagement entlang der drei Säulen der Nachhaltigkeit auszurichten.Derzeit sind Nachhaltigkeitsberichte Mittel der Wahl, um eine erste grundlegende Klarheit über den sozialen und ökologischen Fußabdruck der Unternehmen zu gewinnen. Viele haben sogar damit begonnen, ihre Nachhaltigkeits- und Geschäftsberichte in einem integrierten Report zusammenzuführen. Materielle und immaterielle Wertschöpfung stehen damit gleichberechtigt im Zentrum der Berichterstattung. Auf diese Weise ergeben sich weitreichende Möglichkeiten, die Wechselwirkungen zwischen der wirtschaftlichen Leistung und dem Umgang mit den natürlichen und sozialen Ressourcen transparent herauszuarbeiten.Dieser Gestaltungsraum ist allerdings Fluch und Segen zugleich. Denn wie die sozialen und umweltbezogenen Indikatoren jeweils ausgestaltet werden, liegt bislang noch weitgehend im Ermessen der Unternehmen selbst. Externe Rahmenwerke wie das der Global Reporting Initiative (GRI) geben zwar eine grundlegende Orientierung. Doch je nach Geschäftsmodell, Wertschöpfungsposition und Unternehmenskultur rücken mal diese, mal jene Mess- und Bewertungskriterien in den Fokus. Entsprechend firmenspezifisch zeigt sich die Struktur und damit auch die Aussagekraft der Berichte. Unternehmensübergreifende Vergleiche sind dann allenfalls auf qualitativer Ebene möglich.Doch Abhilfe ist in Sicht. Weltweit haben sich gleich mehrere Expertengruppen darangemacht, die methodische Lücke zu schließen. So etwa das Embankment Project for Inclusive Capitalism, das Impact Management Project, die Social & Human Capital Coalition oder das World Business Council for Sustainable Development. Während sich die Mehrzahl dieser Gruppierungen vor allem auf die Expertise von institutionellen und beraterisch tätigen Organisationen stützt, hat sich im vergangenen August eine Initiative gebildet, die zuallererst das Wissen und die Praxiserfahrungen von Wirtschaftsunternehmen nutzen will.Die Rede ist von der Value Balancing Alliance (VBA), an der sich Konzerne wie BASF, Bosch, Deutsche Bank, LafargeHolcim, Mitsubishi Chemical, Novartis, Porsche, SAP und SK sowie Nachhaltigkeitsexperten der vier großen Wirtschaftsprüfer, der OECD und führender Hochschulen wie Harvard und Oxford beteiligen. Gemeinsam will man in den kommenden drei Jahren eine standardisierte Methodik erarbeiten, mit der Unternehmen ihre wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Wertbeiträge so darstellen, dass diese mit den Leistungen anderer Unternehmen vergleichbar werden.Auf diese Weise erfahren inner- und außerbetriebliche Stakeholder, wo das Nachhaltigkeitsmanagement eines Unternehmens im Marktvergleich steht und auf welchen Handlungsgebieten es welchen Steuerungsbedarf gibt. Hierzu liefert die Value Balancing Alliance eine kohärente Methodik für die Wirkungsmessung und die monetäre Bewertung der Wirkungen. Somit besteht eine der zentralen Herausforderungen darin, Wege zu finden, wie sich gerade auch solche Wirkungen in Geld ausdrücken lassen, deren Kosten und Erträge bis dato externalisiert werden und in keiner Unternehmensbilanz eine Rolle spielen.Darunter fallen zum Beispiel die Umweltwirkungen des Ausstoßes von Treibhausgasen oder die volkswirtschaftlichen Effekte der gezahlten Steuern, Löhne und Gehälter. Um entsprechend bilanzierungsfähig zu werden, sind die Wertbeiträge so zu ermitteln, dass sie den Anforderungen der Wirtschaftsprüfung standhalten und testierfähig sind.Zudem gilt es, die Anschlussfähigkeit des Reporting an gängige Rechnungslegungs- und Bilanzierungsrichtlinien sicherzustellen, insbesondere an die Rahmenwerke IFRS, GRI und SASB. Ziel der Value Balancing Alliance ist es, bis Mitte 2022 ein erstes grundlegendes Methodenset zu erarbeiten und den unterschiedlichen Standardisierungsgremien zur Prüfung vorzulegen. Alles andere als trivialDie erste Stufe der nun anstehenden Entwicklungsarbeit konzentriert sich auf die drei Themenfelder Ausstoß von Treibhausgasen, Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit sowie Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt (BIP). Im dritten Quartal 2020 sollen zu diesen drei Themen Methodenvorschläge vorliegen, die die beteiligten Unternehmen dann in der Praxis testen. Die Erfahrungen der Praktiker fließen zurück in die weitere Entwicklungsarbeit, um sowohl die Validität als auch die Handhabbarkeit der Modelle sicherzustellen.Gleich aus zwei Gründen eignen sich die drei genannten Indikatoren zur Pilotierung. Zum einen liegt hier das am besten abgesicherte Material zum Messen der Ausgangsdaten und zur Bestimmung der Wirkungsketten vor. Zum anderen beherrschen zwei der drei Themen, namentlich CO2- Emissionen und BIP-Beitrag, den Diskurs zwischen Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft derzeit besonders stark.Im Anschluss daran werden kontinuierlich weitere Indikatoren erschlossen. So etwa aus den Themenfeldern Aus- und Weiterbildung, Wasserverbrauch, Wasserverschmutzung, Flächenverbrauch, Abfallmanagement sowie Steuerung von Luftemissionen, die sich nicht in CO2-Äquivalenten ausdrücken lassen. Für jeden dieser Indikatoren erhalten Unternehmen einen umfassenden Leitfaden, wo in der Wertschöpfung sie welche Art von Daten in welcher Granularität und Aktualität zu erheben haben, damit die anschließende Wirkungsberechnung valide arbeiten kann.Die Bandbreite der erforderlichen Ausgangsdaten reicht von den Aktivitäten in der Zulieferkette über die innerbetriebliche Wertschöpfung bis in die Benutzungsphase der ausgelieferten Produkte. Der “Scope” dieser Daten ist daher alles andere als trivial. Neben bereits vorliegenden Daten, wie dem Primärenergieverbrauch einer Produktionsstätte, kommen zahlreiche weitere Daten ins Spiel, zu deren Erhebung die meisten Unternehmen erst noch geeignete Mess- und Erfassungsmethoden implementieren müssen. So zum Beispiel, wenn es darum geht, den Warenkorb des Einkaufs nach Produktkategorien aufzuschlüsseln.Nach Möglichkeit greift die Value Balancing Alliance auf bereits vorhandene Erhebungsmethoden und Berechnungsvorschriften zurück. Vor allem zu den innerbetrieblichen Prozessen liegen bereits zahlreiche ausgereifte Verfahren vor. “Upstream”, das heißt im Zulieferbereich, ist die Zahl der erprobten Verfahren nicht mehr ganz so groß. Doch bieten Input-Output-Modelle, wie sie zum Beispiel von der Weltbank vorgehalten und kontinuierlich aktualisiert werden, einen geeigneten Ausgangspunkt.Im Vergleich dazu sind “downstream”, also auf Kundenseite, Messmodelle noch Mangelware. Einer der Hauptgründe dafür liegt darin, dass in der Phase der Produktnutzung deutlich mehr branchenspezifische Anforderungen zum Tragen kommen, was zu einer entsprechenden Differenzierung der Messmethodik führen muss. Für einige Branchen, wie zum Beispiel die Automobilindustrie oder die Informationstechnologie, gibt es hierzu bereits vielversprechende Konzepte. In vielen anderen Wirtschaftsbereichen ist man jedoch eher noch am Anfang.Vor diesem Hintergrund sehen Organisationen wie die Value Balancing Alliance ihre Arbeit als ständigen Entwicklungsprozess. Schritt für Schritt steigern sie die Aussagekraft ihrer Mess- und Bewertungsinstrumente. Je mehr Unternehmen die Methoden dann nutzen, desto mehr empirische Daten entstehen, um die Wertschöpfungsketten der jeweiligen Branchen mit zunehmender Präzision abzubilden.Der Komplexität der Wertschöpfungsketten entsprechend, entstehen riesige Datenberge. Im nächsten Schritt gilt es diese so zu verdichten, dass sich die gewünschten Kennzahlen ableiten lassen. Für diese Aggregation werden passende Berechnungsvorschriften entwickelt. Am Ende der Rechnung steht dann jeweils ein metrischer Wert. Im Fall von CO2 ist dies der Kilotonnenwert, der alle Emissionen des berichtenden Unternehmens entlang seiner gesamten Wertschöpfungskette zusammenfasst. Um die ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Kosten dieses Kilotonnenwerts in die Bilanz aufzunehmen, braucht es nun einen Preis, einen Bewertungskoeffizienten, der sämtlichen Wirkungen Rechnung trägt, die von den Emissionen ausgehen. Wirkungen monetarisierenEine weitere Kernaufgabe besteht daher darin, die Wirkungsketten der Indikatoren zu beschreiben und in die Preisbildung einzubeziehen. Beispiel Klimawirkungen: Analog zum Vorgehen des Greenhouse Gas Protocol (GHG) lassen sich die Wirkungsketten der CO2-Emissionen in sechs Themenfelder aufschlüsseln. Konkret sind dies die Bereiche menschliche Gesundheit, Gebäude und Infrastruktur, Land- und Forstwirtschaft, wirtschaftlicher Umbruch (Disruption), Wüstenbildung sowie Ökosystemleistungen, worunter Umweltforscher Dienstleistungen verstehen, die funktionierende Ökosysteme dem Menschen liefern.Unter Berücksichtigung aller relevanten Wirkungsketten wird die Value Balancing Alliance für jeden Faktor einen Bewertungskoeffizienten definieren, mit dem sich die Gesamtwirkungsmengen in Geldbeträge umrechnen lassen. Dabei ist die Höhe der Bewertungskoeffizienten keineswegs in Stein gemeißelt. Je nach Erkenntnisfortschritt, so etwa zur Funktionsweise und Relevanz der Wirkungsketten, gilt es die Koeffizienten regelmäßig zu überprüfen und gegebenenfalls neu zu bewerten. Um jedoch regionalen Wildwuchs oder allzu erratische Preisänderungen zu vermeiden, empfiehlt es sich, eine weltweit anerkannte Institution als koordinierendes Gremium einzusetzen, so etwa eine geeignete UN-Organisation, die Weltbank oder die OECD.Das Ergebnis der Monetarisierung ist die Höhe des Wertbeitrags oder der Wertvernichtung, die ein Unternehmen im jeweils betrachteten Indikatorbereich erzielt. Spiegelt ein Indikator den Verbrauch von Ressourcen wider, wie etwa beim Thema Flächennutzung, so entstehen aus bilanztechnischer Sicht Kosten. Demgegenüber werden Erträge ausgewiesen, wenn die Indikatoren positive Wertbeiträge spiegeln – so zum Beispiel zur Höhe des gesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Nutzens, der von den gezahlten Steuern, Löhnen und Gehältern eines Unternehmens ausgeht. Gewonnenes Wissen nutzenEin standardisiertes, anschlussfähiges Reporting birgt zahlreiche Vorteile – sowohl aus Sicht des berichtenden Unternehmens als auch aus der Perspektive seiner Stakeholder. Die innerbetrieblichen Mehrwerte komplett aufzuzählen, würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen. Nahezu auf allen Ebenen der Strategiefindung und des Risikomanagements schaffen die Kennzahlen eine völlig neue Wissensbasis, anhand derer sich die Entwicklungschancen des gegenwärtigen Geschäftsmodells belastbar einschätzen lassen. Besonders wertvoll ist dabei der direkte Vergleich mit der Performance der Mitbewerber.Zudem entsteht eine inhaltsstarke Gesprächsgrundlage für den Austausch mit allen relevanten Bezugsgruppen. So etwa mit den Kapitalgebern, die ihre Anlageentscheidungen besser absichern können, indem sie zusätzlich zu den finanziellen nun auch die ökologischen und sozialen Ertragschancen und -risiken ihrer Portfolien erkennen. Ebenso profitieren Geschäftspartner und (potenzielle) Mitarbeiter. Beide Gruppen können sich ein wesentlich genaueres Bild davon machen, inwiefern ein Unternehmen den Anforderungen entspricht, die sie an einen verantwortungsvollen Umgang mit gesellschaftlichen und umweltbezogenen Ressourcen stellen. Gleiches gilt für Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft. Besonders wichtig dabei: Alle Seiten erhalten eine valide Wissensgrundlage, um mögliche Steuerungsmaßnahmen, wie zum Beispiel die Höhe einer Umweltsteuer, angemessen auszutarieren.Doch ganz gleich, welche Frage im konkreten Fall dann auch immer zu klären ist, stets geht es für die Unternehmen darum, gemeinsam mit den Stakeholdern Antworten auf die Herausforderungen zu finden, die aus den Wechselwirkungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt resultieren. Im Rahmen dieses permanenten Findungsprozesses liefern ganzheitliche Reporting- und Steuerungslösungen die erforderliche 360-Grad-Sicht, um die geschäftlichen Interessen der Unternehmen mit den Herausforderungen unserer Zeit dauerhaft in Einklang zu bringen. Daniel Schmid, Chief Sustainability Officer bei SAP SE und Thomas Birnmeyer, Projektleiter Nachhaltigkeit bei SAP SE