SERIE: DIGITALE BÖRSENWELT (2)

Börsen wollen Vorsprung durch Technologie

Diversifizierung als Antwort auf weiter steigenden Wettbewerbsdruck - Nachhandels- und Datenservices zuoberst auf der Agenda

Börsen wollen Vorsprung durch Technologie

Von Dietegen Müller, FrankfurtVor gut einem Jahrzehnt ist die heile Welt der Börsenbetreiber zu Ende gegangen. Der Regulator zerschlug den Aktienhandel auf verschiedene alternative Handelsplattformen. In regionalen Monopolen herangewachsene Börsenbetreiber gerieten dadurch unter Preis- und Wettbewerbsdruck. Zeitlich verzögert führte die Regulierung auch zu Druck auf das Derivategeschäft, eine der sprudelnden Erlösquellen.Mit verschiedenen Initiativen haben die etablierten Handelsplatzbetreiber versucht, Marktanteilsverluste einzudämmen und auf den Wachstumskurs zurückzufinden. Teils ist ihnen das gelungen, sei es durch Übernahmen oder Technologie- und Produktkooperationen für neue Assetklassen, Regionen und Kundengruppen. Lukrative HochfrequenzWie viele Großbanken investieren auch Börsenbetreiber in Fintech-Start-ups, um neue Trends in der weiteren Digitalisierung von Finanzdienstleistungen nicht zu verschlafen und sich neue Kundenbeziehungen zu erschließen. So hat sich die Deutsche Börse vor einem halben Jahr für 725 Mill. Euro die Devisenplattform 360T einverleibt – und ist damit nebenbei 2015 gleich zum wichtigsten Finanzierer in der deutschen Start-up-Szene avanciert. Auch das Bekenntnis der US-Technologiebörse Nasdaq zur Nutzung der Blockchain-Datenbanktechnologie dürfte nicht das einzige in der Branche bleiben: Weitere Börsen schauen sich dieses Thema – ebenso wie viele Banken – an. Einige Beobachter erwarten, es werde die Marktlandschaft dereinst umpflügen, da die Blockchain bestehende Transaktionsprozesse ersetzen könnte.In der Suche nach Wachstum wandeln sich die Börsenbetreiber zu reinen Technologie-Providern. Eine zentrale Einnahmequelle ist die Ausrichtung auf Hochgeschwindigkeitshändler (HFT) geworden. Die Börsen haben mit Partnern Datencenter errichtet, in denen HFT-Akteure eigene Server aufstellen können und durch räumliche Nähe (Co-Location) einen Zeitvorsprung im Erkennen von Preissignalen haben. Auch liefern sie für automatisierte Handelsstrategien aufbereitete Marktdaten oder weitere Dienste.Laut Ronan Ryan, Chief Strategy Officer des US-Dark-Pools IEX, machen im Fall der US-Technologiebörse Nasdaq die Erlöse aus Beziehungen zu Hochfrequenzhändlern die Mehrheit aus. Der Marktdatenanbieter Nanex hält diese Einschätzung für plausibel. Nasdaq legt dazu keine Zahlen vor. Auch für europäische Börsenbetreiber dürften die Einnahmen aus Aktivitäten von Algo- und Hochfrequenz-Tradern hoch liegen. Die Deutsche Börse nennt keine Zahlen zu den Co-Location-Erlösen.Während im Handel die Digitalisierung seit über zwanzig Jahren Einzug gehalten hat und der Zahlungsverkehr sich auch virtuell weiterentwickelt hat, gibt es in den Bereichen Marktdaten und im Nachhandel – Titelverwahrung, Ausführung von Corporate Actions, Reporting – noch Spielraum für neue Dienste. Das bedeutet für die Börsenbetreiber intern aber auch aufwendige IT-Modernisierungsprojekte.Im Bereich Datendienste stehen die Börsen dabei im Wettbewerb mit anderen Finanzdaten-Dienstleistern wie Thomson Reuters, Factset, Icap oder Markit. Das Thema Big Data ist für sie selbstverständlich – angesichts der Fülle an Marktdaten, die für Kundenspezifika aufbereitet werden müssen. Dabei gewinnt die Real-Time-Analyse an Gewicht und führt zu neuen Produkten, wie etwa Intraday-Volatilitätsprognosen.Rückenwind erhalten LSE, Deutsche Börse und Co. von der Regulierung. Außerbörsliche Transaktionen sollen über regulierte Plattformen geleitet werden, was den traditionellen, regulierten Marktbetreibern zugutekommt. Nasdaq OMX bietet etwa Risikomanagement-Lösungen für Banken und Broker an, welche deren Wertpapiertransaktionen analysieren und überwachen, auch im ultraschnellen Handel.Die aus Sicht der Börsen bittere Pille ist, dass im Gegenzug der Wettbewerbsdruck in Bereichen steigt, die bisher Domänen einiger Anbieter waren, insbesondere im Nachhandel. Marktteilnehmer haben hier mehr Wahlrechte. Gruppen, die viele Erlöse in der Abwicklung erzielen, wie die sehr breit diversifizierte Deutsche Börse mit Clearstream, sind hier gefordert. Mit der schrittweisen Umsetzung der europäischen Wertpapierabwicklungsplattform T2S könnte sich der Wettbewerb verstärken, erwarten Beobachter, zumal neue, auch bankennahe Anbieter in den Markt zu drängen versuchen. Erlösausfälle kompensierenEs zeichnet sich auch ab, dass Betreiber wie Six Group, die im Juni in der ersten Welle auf T2S migriert ist, versuchen, damit verbundene Erlösausfälle durch den Ausbau von Asset-Servicing-Diensten zu kompensieren. Der Aufbau von Dienstleistungen im Nachhandel ist aber ein langwieriges Unterfangen, in das Banken, Emittenten und Investoren einbezogen werden müssen.Abgesehen von der engeren technologischen Verzahnung mit Kunden ist eine Internationalisierungsstrategie eine weitere Möglichkeit, Wachstum zu erzeugen. Damit verbunden sind akquisitorische Risiken, wie der Kauf der US-Aktienoptionsbörse ISE, der für die Deutsche Börse zu hohen Wertberichtigungen geführt hat. Expansionsschwerpunkte liegen derzeit für viele Anbieter in Asien. Zurückhaltend ist dagegen die bis Juni 2014 zur Rohstoffbörse ICE gehörende Mehrländerbörse Euronext. Sie sagte auf Anfrage, sie verfolge eine Strategie des “organischen Wachstums”. Da der neue CEO Stéphane Boujnah erst seit kurzem im Amt ist, macht die Börse keine weiteren Aussagen zu möglichen Wachstumsplänen außerhalb des Handelsgeschäftes.Der Schweizer Marktinfrastrukturbetreiber Six Group expandiert zudem gezielt in den Bereich Payment Services und baut eine Lösung für den mobilen Zahlungsverkehr zwischen Personen. Die Virtualisierung des Zahlungsverkehrs verspricht Wachstum, die Margen sind aber unter Druck, der Wettbewerb ist hoch (vgl. Interview Seite 3).Diversifizierung allein ist darum keine ausreichende Antwort auf den Wandel in der Finanzbranche. Ausschlaggebend dürften das technologische Know-how sowie die Qualität der Kundenbeziehungen sein. Wer beides im Griff hat, sollte die eigene Position halten können.—-Zuletzt erschienen: – Der IT-Fortschritt fordert die Börsen heraus (29. Dezember)