Brav, altbacken und disruptiv

Von Ulli Gericke, Berlin Börsen-Zeitung, 23.6.2017 Nein, so richtig scheint Deutsche-Börse-Chef Carsten Kengeter seinem schönen neuen Marktsegment Scale für kleine und mittelgroße Unternehmen nicht zu trauen. Da warb er vor hunderten...

Brav, altbacken und disruptiv

Von Ulli Gericke, BerlinNein, so richtig scheint Deutsche-Börse-Chef Carsten Kengeter seinem schönen neuen Marktsegment Scale für kleine und mittelgroße Unternehmen nicht zu trauen. Da warb er vor hunderten Jungunternehmern auf der Berliner Noah-Konferenz für einen Börsengang von deren Start-ups, damit sie mit dem neuen Kapital auf ein neues Level kommen und ihr Einhorn oder vielleicht auch nur ihr Einhorn-Fohlen groß und stark füttern – aber das dafür konzipierte neue Börsensegment war nicht der Rede wert. Dabei wäre genau jetzt der richtige Zeitpunkt für ein Going Public: Der Dax auf Höchstniveau, die Volatilität ganz unten, so gute Bedingungen habe es schon lange nicht mehr gegeben. “Don’t be late”, rief er dem Noah-Publikum zu, die Wettbewerber seien schon da.Wie auch bei den anderen Beiträgen gab es nach Kengeters Vortrag brav Beifall – und zwar nicht nur, weil der Börsen-Chef die Anwesenden einlud, draußen im Pavillon bei einem Kaffee über die Chancen eines Börsengangs zu reden. Die vom Axel-Springer-Konzern initiierte Internet- und Digitalkonferenz Noah hat sich zum Treffpunkt hipper und geduldiger Unternehmensgründer (und weniger Unternehmensgründerinnen) gemausert, wobei ein sonderbarer Gegensatz zu beobachten ist zwischen jung-dynamischem Publikum und altbackenem Prozedere: Hier ein Vortrag mit oder ohne Slides (wie bei Kengeter), dort eine Start-up-Präsentation, die selten ohne die Stichworte “Global Leader” oder “Champion” über die Bühne geht, und hin und wieder ein Pseudogespräch zwischen einem Moderator – dem einzigen Menschen mit Schlips weit und breit – und einem Entrepreneur, der dies als Werbezeit für sein Unternehmen nutzt. Und hinterher immer brav Beifall.Apropos Werbung: Draußen vor dem Veranstaltungsgebäude machte Porsche unübersehbar auf sich aufmerksam, mit immerhin einem Hybridauto. Die Zielgruppe Unternehmensgründer hat aus Zuffenhausener Sicht offensichtlich Potenzial. Vielleicht hilft ja ein Initial Public Offering (IPO), um die hochmotorisierten Träume Wirklichkeit werden zu lassen.Auf der Noah-Konferenz stellen Start-ups zu unterschiedlichen Themen – angefangen bei Industrie bis zu Payments und Fintech – ihre disruptiven Geschäftsmodelle vor und etablierte Konzerne wie Siemens, Karstadt oder die Allianz antworten, dass sie die Herausforderungen durchaus verstanden hätten und jetzt durchstarten. Für die Deutsche Bank etwa sei die Digitalisierung kein IT-Update, versichert Privatkundenvorstand Christian Sewing, sondern ein Strategie-Update, mit dem die Frankfurter zur “digitalen Hausbank” werden wollen mit Angeboten “beyond Banking”. Auf diesem Weg werde fleißig in Innovation Labs geforscht, aber auch mit Fintechs kooperiert, woraus der Zaubertrank “B2B2C” gebraut werde.Bodenständiger ging es am Vorabend zu, beim Stapellauf der diesjährigen (Arche) Noah. Die Flasche Champagner ließ SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz zerschellen mit der Forderung besserer Bedingungen für Gründer und Start-ups. Man müsse hinterfragen, “ob unser Steuersystem für junge Unternehmer die richtigen Anreize setzt”. Deutschland dürfe nicht hinterherhinken. Ziel müsse es sein, dass die nächsten Internetriesen und Marktführer aus Europa kommen und nicht aus dem Silicon-Valley in den USA. Kengeter übrigens sagte am Tag darauf das Gleiche und bot seine Hilfe an. ——–Die Noah-Konferenz segelt zwischen Start-ups und “Wir-haben-schon-verstanden-Konzernen”.——-