Chance für ausgewogene Kommunikation der Werttreiber
Die rasante Beschleunigung an den weltweiten Kapitalmärkten durch Hochgeschwindigkeitshandel und 24-Stunden-Echtzeitnachrichtenfluss, in deren Folge die Bedeutung aktivistischer Investoren rasant wächst und unterjährige Finanzinformationen kurzfristiges Denken an den Kapitalmärkten zusätzlich zu fördern scheinen, stellt Unternehmen vor eine große Herausforderung: Angesichts der Kurzatmigkeit des Kapitalmarktgeschehens ist es eine anspruchsvolle Aufgabe das Geschäft langfristig auszurichten und die langfristigen Werttreiber adäquat an alle Stakeholder zu kommunizieren. Erhöhter öffentlicher DruckDie Schnelllebigkeit des Marktes, eine zunehmend professionalisierte Öffentlichkeit und der ständige Einfluss sozialer Medien erhöhen den öffentlichen Druck. So besteht die Gefahr, dass Unternehmen dazu neigen, die kurzfristige Gewinnmaximierung über die langfristige Ausrichtung und Unternehmensentwicklung zu stellen. Eine aktuelle Befragung von IR-Verantwortlichen von gelisteten Unternehmen im DACH-Raum gibt erste Einblicke in die Kommunikation von kurz- und langfristigen Werttreibern in der IR-Praxis. Wesentliche Fragestellungen sind: Was sind kurz- und langfristig gesehen die wichtigsten finanziellen und nicht finanziellen Werttreiber? Wie können diese besser in die Finanzkommunikation integriert werden? Was sind hierbei die Herausforderungen und konkreten Ansätze in der IR-Praxis?Vorstand und Aufsichtsrat werden von großen internationalen Investoren vermehrt aufgefordert, eine nachhaltige und langfristige Steigerung des Unternehmenswertes in den Blick zu nehmen. Im Spannungsfeld der unterschiedlichen Interessenlagen der Stakeholder von Investor-Relations (IR) im Kapitalmarkt kann IR einen wertvollen Beitrag leisten, um die kurz- und langfristigen Werttreiber eines Unternehmens sowohl über etablierte als auch über neue finanzielle und nicht finanzielle Kenngrößen zu kommunizieren.Einen hohen Einfluss auf den Aktienkurs hat etwa die Analysten-Guidance mit Ausblick auf das Folgejahr. Sie erfolgt durch IR, und zwar primär auf Basis einer erwarteten Umsatz- und Ebit-Spanne (Gewinn vor Zinsen und Steuern) sowie auf Grundlage unternehmensspezifischer Annahmen. Diese Guidance wird von den Unternehmen fortlaufend mit den Ist-Zahlen der Quartalsinformationen oder -berichte abgeglichen, um zu prüfen, ob eine Ad-hoc-Meldung zu Umsatz- beziehungsweise Gewinnwarnungen oder -erwartungen veröffentlicht werden muss. Die Anzahl dieser Ad-hoc-Meldungen ist in den letzten Jahren auf ein Rekordniveau bei Unternehmen im Prime Standard gestiegen, mit entsprechendem Einfluss auf den Unternehmenswert und das Vertrauen am Kapitalmarkt.Die Digitalisierung ist ein weiterer Faktor, der bedeutenden Einfluss auf die Schaffung von Unternehmenswert hat. Die rapide digitale Entwicklung hat zu einem Wandel etablierter Geschäftsmodelle geführt und neue Modelle ermöglicht. Wie erfolgreiche Technologie- und Internetunternehmen zeigen, machen materielle Vermögensgegenstände wie Gebäude, Maschinen und Ressourcen nicht mehr zwingend den Großteil des Unternehmenswertes aus, vielmehr können selbst geschaffene oder erworbene immaterielle Werte dominieren. Beispiele sind etwa Apps, Künstliche Intelligenz, E-Commerce-Plattformen, soziale Netzwerke, Blockchain-Anwendungen, Datenbanken und vieles mehr.So stiegen in der letzten Dekade weltweit Digitalkonzerne zu den wertvollsten Unternehmen auf und zogen in große Auswahlindizes ein. Die Orientierung der Unternehmensbewertungspraxis an Umsatz-, Ergebnis- und Cash-flow-Größen der Ist-Zahlen des aktuellen Jahresabschlusses und an Planzahlen der Folgejahre spiegelt oft nicht das langfristige Potenzial für die Steigerung des Unternehmenswertes wider.Ein großer Anteil des Unternehmenswertes liegt damit zunehmend in immateriellen und selbst geschaffenen Vermögensgegenständen und in langfristig nicht finanziellen Werttreibern, wie etwa dem geschaffenen Kundenstamm, dem Talent, der Unternehmenskultur, der Markenbekanntheit, dem Marktanteil oder dem Image. Diese werden jedoch derzeit durch die historisch gewachsenen Rechnungslegungsstandards noch nicht adäquat erfasst. Immaterielle Vermögensgegenstände werden durch den Standard IAS 38 nur auf Basis der Entwicklungskosten bilanziert oder erscheinen aufgrund der Regeln des Standards überhaupt nicht in der Bilanz.Das führte unter anderem gerade in den letzten beiden Dekaden des technologischen Wandels zu einer wahrgenommenen “Wertlücke” zwischen den angesetzten Werten in der Bilanz und dem an der Börse gebildeten Marktwert. So weisen insbesondere Technologieunternehmen in den Technologieindizes TecDax 30 und Nasdaq 100 ein erwartungsgemäß deutlich höheres Kurs-Buchwert-Verhältnis – zwischen drei und vier – und Kurs-Gewinn-Verhältnis im Vergleich zum Dax, MDax, SDax, ATX 20 und SMI 20 auf und zeigen, dass sich im Marktwert dieser Unternehmen immaterielle Vermögensgegenstände und Werttreiber widerspiegeln. Wichtig für InstitutionelleInsbesondere für institutionelle Anleger mit langfristiger Orientierung haben die langfristigen Treiber des Unternehmenswertes große Bedeutung. Unter Langfristigkeit versteht die Mehrheit von 59 % der für die Studie befragten IR-Verantwortlichen einen Zeitraum von drei bis fünf Jahren und 28 % sogar ein Zeitfenster von fünf bis zehn Jahren. Auch sehr vermögende Einzelpersonen und Family Offices, Fonds von Versicherungen, Rentenfonds, staatliche Vermögensfonds und Privatanleger lassen nach Einschätzung der IR-Verantwortlichen den langfristigen Werttreibern tendenziell eine höhere Bedeutung zukommen, während erwartungsgemäß vor allem für die aktivistischen Investoren und Hedgefonds die kurzfristigen Werttreiber, wie zum Beispiel Umsatz, Gewinn, Rendite und Cash-flow eine höhere Bedeutung haben.In Bezug auf die Unternehmensgröße misst die Mehrheit der befragten IR-Verantwortlichen (knapp 55 %) für Small- & Mid-Cap- und 59 % für Large-Cap-Investoren den langfristigen Werttreibern eine höhere Bedeutung bei als den kurz-fristigen Werttreibern. Dies verdeutlicht die Notwendigkeit einer ausgewogenen Kommunikation und einer Balance von kurz- und langfristigen Werttreibern in der IR-Praxis. Vertrauen ausbauenAus Sicht der IR-Officer ist zudem der Erhalt und Ausbau des Vertrauens und der Glaubwürdigkeit bei Investoren im Kapitalmarkt eine zentrale Aufgabe rund um das Erreichen eines nachhaltigen und fairen Unternehmenswertes. Zu den Top-4-Werttreibern zählen zudem die Innovations- und Disruptionsfähigkeit, die gute Corporate Governance und ein gutes Team – und auch die Fähigkeit, neue Talente zu gewinnen. Der Kommunikationsrahmen über Werttreiber durch IR ist durch eine Vielzahl von Gesetzen, Leitlinien und Standards klar vorgegeben, von denen viele die regelmäßige Kommunikation von langfristigen Werttreibern bereits zum Gegenstand haben, wie zum Beispiel die Inhalte in der nicht finanziellen Erklärung. So verwundert es nicht, dass 75 % der IR-Verantwortlichen angeben, dass eine häufigere Pflichtkommunikation von finanziellen und nicht finanziellen Kennzahlen nicht förderlich für eine langfristige Ausrichtung und Orientierung des Unternehmens ist. Dahingegen sehen knapp zwei Drittel in einer Erhöhung der Transparenz über nicht finanzielle Werttreiber keine oder nur geringe nachteilige Beeinträchtigungen von Wettbewerbsvorteilen.90 % der IR-Officer sehen im Durchschnitt ein niedriges bis mittleres Interesse der IR-Stakeholder an der nicht finanziellen Erklärung. Nur knapp 13 % der IR-Verantwortlichen stimmen jedoch mehr oder weniger voll und ganz zu, dass die nicht finanzielle Erklärung ihren Zweck in der IR erfüllt. Besonders bei Mid- und Small-Caps wird die nicht finanzielle Erklärung kritisch in Bezug auf die Zweckerfüllung in der IR gesehen. Die größten Auswirkungen auf das Geschäftsmodell und die Kapitalmarktstory heute und in Zukunft sehen die IR-Verantwortlichen bei den Themen zu Umweltbelangen. IR-Stakeholder erwarten jedoch grundsätzlich vergleichbare Berichtsstandards. Einen der größten Kritikpunkte an der nicht finanziellen Erklärung sehen 47 % jedoch in der fehlenden Vergleichbarkeit. Um vergleich-baren Berichtsstandards nachzukommen, orientieren sich viele Berichte zur nicht finanziellen Erklärung an Rahmenwerken wie zum Beispiel der GRI (Global Reporting Initiative). 44 % der Befragten geben außerdem fehlende Standards und 25 % fehlende Metriken als häufigste Bedenken an.IR ist mehr denn je aufgefordert, sowohl kurz- als auch langfristige Werttreiber ausgewogen zu kommunizieren – auch und vor allem im heutigen Spannungsfeld zwischen kurzfristigen Disclosures und der Forderung von langfristigen Investoren nach einer nachhaltigen Unternehmenswertsteigerung. Die aktuelle Umfrage zeigt, dass die IR-Officer deutliche Verbesserungspotenziale in vielen Bereichen sehen. Ein großes Potenzial des Unternehmenswertes wird in immateriellen und langfristigen Werttreibern erkannt. Diese gilt es genau zu analysieren, durch messbare Kenngrößen transparenter zu machen und stärker zu kommunizieren. Hier besteht für IR die Chance, trotz der Kurzfristigkeit des Kapitalmarktes den Fokus bei allen IR-Stakeholdern auf ein umfassenderes Bild aller Werttreiber für eine nachhaltige Unternehmenswertsteigerung zu lenken. Martin Steinbach, Partner, Head of IPO and Listing Services bei EY