Corona wird zum Stresstest für Versicherer

In NRW wie in anderen Teilen der Welt sind Versicherungen derzeit von großen Verwerfungen betroffen - Innovationen im Sales-Bereich sind jetzt gefragt

Corona wird zum Stresstest für Versicherer

“Bei Geldfragen hört die Gemütlichkeit auf”, sagte einst David Hansemann. Als der visionäre Unternehmer, Politiker und Unternehmer 1825 die Aachener Feuer-Versicherungs-Gesellschaft gründete, war er einer der Wegbereiter für die heutige Bedeutung Nordrhein-Westfalens als Versicherungsstandort. Die Versicherungswirtschaft gehört längst zu den Schlüsselbranchen des Landes. Gemessen an der Zahl der dort ansässigen Versicherungsunternehmen und der Zahl der Beschäftigten gilt Nordrhein-Westfalen als der größte Versicherungsstandort Deutschlands.Allein in Köln sind nach Informationen von NRW Invest fast 25 000 Menschen in der Versicherungsbranche beschäftigt – damit arbeitet rund jeder 20. Beschäftigte in der Domstadt im Versicherungssektor. Mehr als 150 nationale und internationale Versicherungen haben ihren Hauptsitz oder eine Vertretung am Rhein. Dazu zählen auch Branchengrößen wie Axa, DEVK, Gothaer und Zurich. Neben Köln haben sich darüber hinaus Düsseldorf, Dortmund und Münster in NRW als wichtige Versicherungsstandorte einen Namen gemacht. In Düsseldorf haben sich mehr als 20 Versicherungsunternehmen angesiedelt, darunter Arag, Ergo sowie Provinzial. Und in Dortmund haben die Versicherungskonzerne Continentale sowie Signal Iduna ihren Sitz, in Münster die LVM Versicherung.Alle in Nordrhein-Westfalen ansässigen Versicherer stehen vor der gleichen großen Herausforderung, die alle Versicherer rund um den Globus erfasst: dem Stresstest durch die Covid-19-Pandemie. Diese führt zu großen Verwerfungen in der Versicherungsbranche. Wir haben die Geschäftsberichte bedeutender Versicherer weltweit für das erste Halbjahr 2020 analysiert und beobachten Gewinneinbußen von 30 % und mehr.Die Beitragseinnahmen sind dabei für viele Versicherer aber in der Regel nicht das Problem. Sie befinden sich oft auf unverändert gutem Niveau – oder es gibt nur leichte Rückgänge. Zur Last werden für Versicherer derzeit aber insbesondere die steigenden Schadenaufwendungen im Zusammenhang mit Covid-19, während gleichzeitig der Druck durch die sinkenden Anlagerenditen steigt.Zwar ist es seit dem Ausbruch der Pandemie zu weniger Schäden in Bereichen wie etwa dem Kfz-Sektor gekommen – was im Fall von Kfz-Versicherungen damit zusammenhängt, dass das allgemeine Verkehrsaufkommen während der Pandemie infolge vielfacher Homeoffice-Lösungen gesunken ist und damit auch die Unfallhäufigkeit. Dies konnte aber nicht die hohen Schadenaufwendungen im Industrie- und Gewerbesektor auffangen. In diesen Bereichen gibt es nie dagewesene Kumulrisiken. Verschärfter AnlagenotstandZudem verschärfen die Volatilität an den Aktienmärkten, die niedrigen beziehungsweise teilweise auch negativen Zinsen sowie der Druck durch die coronabedingten Maßnahmen der Europäischen Zentralbank den Anlagenotstand. Auch an den Immobilien- und Hypothekenmärkten sowie bei alternativen Investments könnten als stabil erachtete Renditen in Frage gestellt sein. Das hat fatale Folgen für die Kapitalanlagen der Versicherer. Die Risiken und die möglichen Abschreibungen auf die Kapitalanlagen belasten die Bilanzen der Versicherer und wirken sich insbesondere bei Lebensversicherern negativ auf die Solvency-II-Quoten aus. Es gibt einen LichtblickUm den Folgen der Covid-19-Pandemie zu begegnen, empfiehlt sich eine Anpassung der Vertriebs- und Produktstrategie. Im aktuell herausfordernden Umfeld wird der Verkauf margenstarker Produkte immer wichtiger. Zudem sollten sich Versicherer vermehrt auf Sach- und Unfallversicherungen konzentrieren, um den massiven Rückgang der Investmenterträge im kapitalintensiven Lebensversicherungsgeschäft und die steigenden Anforderungen zur Sicherung der Solvabilität abzufedern.Zugleich gibt es einen Lichtblick: Die in vielen Fällen soliden Zahlen bei den Beitragseinnahmen zeigen uns, dass die Versicherer in der Regel noch kein Sales-Problem haben. Neben den Herausforderungen im Hinblick auf die Reduzierung der Schadenfälle und die Steigerung der Investment Returns sollten sie Innovationen im Sales-Bereich weiter vorantreiben. Denn viele Bereiche des täglichen Lebens verlagern sich in die digitale Welt.Die Corona-Pandemie beschleunigt diese Entwicklung. Versicherer sind gefordert, auf die veränderten Gewohnheiten der Menschen zu reagieren. Neue digitale Kontaktstrategien, das Nutzen von Ökosystemen, die ganzheitliche Betrachtung des Kunden und auch das Thema Big Data sind jetzt wichtiger denn je. Die Versicherer sollten die Chance zur Veränderung nutzen, damit sie künftig kein Sales-Problem bekommen.Die Versicherer mit Hauptsitz und Vertretung in Nordrhein-Westfalen haben dafür gute Voraussetzungen. Zum Beispiel durch Kooperationen mit Startplatz – einem Start-up-Inkubator und Accelerator mit Standorten in Köln und Düsseldorf, der Unternehmen und Start-ups zur erfolgreichen Realisierung ihrer Digitalisierungsstrategie verknüpft. Oder durch die Zusammenarbeit mit dem Insurlab Germany in Köln, das vor drei Jahren mit dem Ziel gegründet wurde, Innovationen und die Digitalisierung in der Versicherungsbranche voranzubringen.Dabei kommt es in jedem Fall auf die richtige Strategie an. Das zeigt das Beispiel Ökosysteme: Versicherungsnehmer erwarten heute mehr als kontextuale Versicherungslösungen beim E-Commerce. Gefragt sind vielmehr Plattformen, auf denen alle ihre Bedürfnisse eines Lebensbereichs umfassend bedient werden. Lebensversicherer sollten auf die veränderten Gewohnheiten ihrer Kunden reagieren – gerade in Zeiten der Covid-19-Pandemie. Zudem macht die Digitalisierung auch vor den traditionellen Vertriebswegen nicht halt. In diesem Wandel liegen große Chancen.Kurzfristig bleibt den Versicherern mit Blick auf den Verlauf der Covid-19-Pandemie und die Geschäftsentwicklung im kommenden Jahr die Hoffnung, dass die angenommenen Negativszenarien in dieser Form nicht Realität werden. Viele Versicherer sind bei ihren Planungen, die sich in den Geschäftsberichten widerspiegeln, mit kaufmännischer Vorsicht vorgegangen, um böse Überraschungen zu vermeiden. Das heißt aber zugleich, dass wir 2021 durchaus positive Überraschungen erwarten können, wenn die Lage sich weniger schlecht entwickelt als eingeplant. Das wäre auch für den Versicherungsstandort Nordrhein-Westfalen eine schöne Überraschung. Dirk Schmidt-Gallas, Senior Partner und Leiter der Versicherungspractice bei Simon-Kucher & Partners