IM INTERVIEW: PETER MÖSLE, DREES & SOMMER, UND STEFANIE VOIT, TS ADVISORY GBR

"Cradle to Cradle hat echten Mehrwert"

Kreislauffähiges Bauen fängt beim richtigen Produktdesign in der Gebäudeplanung an - Wichtiger Faktor beim späteren Verkauf oder der Vermietung

"Cradle to Cradle hat echten Mehrwert"

Nachhaltige Gebäude sind nicht nur energieeffizient – sie bestehen auch aus natürlichen und recyclingfähigen Materialien. “Cradle to Cradle” lautet das Designprinzip, das dieses Ziel verfolgt. Für Investoren, Projektentwickler, Hersteller und Bauherren stellt es eine große Innovationschance dar. Denn es bietet neben der Klima- und Ressourcenschonung und der Erfüllung von EU-Anforderungen auch einen handfesten betriebswirtschaftlichen Nutzen. Im Interview sprechen Peter Mösle, Partner der Drees & Sommer SE und Geschäftsführer der EPEA GmbH, und Stefanie Voit, Wirtschaftsprüferin und Steuerberaterin bei TS Advisory GbR, über die wirtschaftlichen Vorteile des kreislauffähigen Bauens. Der im März beschlossene Green Deal der EU hat die Circular Economy als wichtigen Baustein definiert. Wie kann dem die Immobilienwirtschaft Rechnung tragen?Mösle: Viele Wirtschaftssektoren, Unternehmen und Entscheider stehen vor der großen Aufgabe, sämtliche Investitionen, Prozesse und Vorhaben hinsichtlich ihrer Nachhaltigkeit und Kreislauffähigkeit zu überdenken. Die Bau- und Immobilienwirtschaft ist der größte Verbraucher der weltweiten Rohstoffe und verursacht immense Abfallmengen. Sie steht daher in der Verantwortung, schnelle und effektive Antworten auf Klima- und Ressourcenfragen zu liefern. Zwar werden heute im Zuge von Abbruch- oder Umbauarbeiten einige Baumaterialien recycelt, allerdings bei weitem nicht genug, um zur Lösung der Rohstoff- und Umweltprobleme beizutragen. Eine echte Kreislaufwirtschaft nach dem Cradle-to-Cradle-Prinzip fängt daher nicht beim Abfall und dem Recyclingprozess an, sondern beim richtigen Produktdesign in der Gebäudeplanung. Was bedeutet das konkret?Mösle: Das bedeutet, dass man sich detailliert mit den verwendeten Baumaterialien und ihren Fügetechniken auseinandersetzen muss. Es sollten möglichst nur Bauprodukte zum Einsatz kommen, die keine umweltschädlichen Stoffe enthalten und am Nutzungsende entweder in den biologischen Verwertungskreislauf (Kompostierung) oder in den technischen Verwertungskreislauf (stoffliches Recycling) gehen. Natürlich müssen die Produkte zudem trennbar sein, damit der Rückbau in Zukunft sehr viel einfacher wird als heute. Wir geben bei unseren Gebäudeplanungen heute schon Rückbauanleitungen mit an – und unser Materialausweis zeigt transparent auf, welche Stoffe wo verbaut sind und wie sie sich wieder recyceln lassen. So lassen sich nach Baufertigstellung die verfügbaren Rohstoff-Restwerte einfach und sicher ermitteln – hierzu etablieren sich gerade auch digitale Materialkataster analog zum heutigen Grundstückskataster. Aber letztlich zählen für die Entscheider auf Unternehmens- beziehungsweise Konzernebene doch vor allem die betriebswirtschaftlichen Aspekte.Voit: Das stimmt. Der ökologische Mehrwert wird von den meisten Entscheidern nur dann als “echter” Mehrwert verstanden, wenn dieser sich im Immobilienlebenszyklus auch betriebswirtschaftlich abbilden lässt. Bei Immobilien, die nach dem Cradle-to-Cradle-Prinzip geplant sind, ist das aber durchaus möglich. Denn es lässt sich auf Basis des von Herrn Mösle genannten Materialausweises zu jedem Zeitpunkt belegen, welche Materialien konkret verbaut wurden und welchen Wert diese haben. Und dieser Materialausweis ist – vergleichbar mit dem Energieausweis im privaten Hausbau – ein wichtiger Wertfaktor beim späteren Verkauf, bei der Vermietung oder auch bei der Finanzierung der Immobilie.Mösle: Die Gebäude, die heute geplant werden, sollen natürlich langfristig vermietbar sein oder zu einem möglichst hohen Preis verkauft werden können. Sie müssen dementsprechend die Wünsche der künftigen Nutzer berücksichtigen. Zudem ist Nachhaltigkeit in vielen Unternehmen inzwischen ein Teil der Unternehmensstrategie, die sie nach innen wie nach außen widerspiegeln möchten. Das lässt sich nach außen hin natürlich vor allem durch die Immobilien zeigen, in denen man arbeitet. Hinzu kommt, dass Büroräume für Mitarbeiter als identitätsstiftend gelten und damit auch ein wichtiger Faktor für das Employer Branding sowie für eine erfolgreiche Personalakquisition sind. Denn daran, dass Unternehmen um hoch qualifizierte Fachkräfte konkurrieren, hat auch die Coronakrise nichts geändert. Welche Faktoren fließen denn in die betriebswirtschaftliche Beurteilung von Immobilien ein?Voit: Betriebswirtschaftliche Key Performance Indicators bei Immobilienobjekten sind regelmäßig etwa der Return on Investment, die Höhe der Belastung des Jahresergebnisses durch Alterswertminderungen oder Marktwertverluste, die Zinsbelastung aus der Finanzierung und natürlich auch die laufenden Kosten. Die betriebswirtschaftlichen Bewertungen der Immobilien im Rahmen von Jahresabschlüssen und Steuererklärungen einerseits sowie der Festlegung der Finanzierungskonditionen, also Zinssatz und Sicherheitenwert, der Immobilien andererseits basieren dabei auf Bewertungsgutachten von unabhängigen Immobiliensachverständigen. Wie wird der ökologische Mehrwert des Cradle-to-Cradle-Ansatzes dann konkret betriebswirtschaftlich sichtbar?Voit: Er kann sowohl im Ertragswertverfahren als auch im Discounted-Cash-flow-Verfahren als werterhöhender Faktor berücksichtigt werden. Damit wird das Risiko von Wertverlusten auf die Immobilie reduziert beziehungsweise die Chance auf nachhaltigen Werterhalt oder sogar Wertsteigerungen erhöht. Für die Bilanzierung bedeutet das, dass das Risiko für außerplanmäßige Belastungen durch Abschreibungen oder Veräußerungsverluste sinkt und Ergebniskennziffern des Unternehmens stabiler und planbarer sind – sie werden also nicht unerwartet durch Einmaleffekte belastet. Und für die Finanzierung der Immobilie bedeutet ein höherer Ertragswert und daraus resultierend ein höherer Beleihungswert, dass ein höherer Finanzierungsbetrag möglich ist und dementsprechend weniger Eigenkapital aufgebracht werden muss oder dass ein geringerer Zinssatz für die Finanzierung verhandelbar ist. Sie haben von möglichen Wertsteigerungen gesprochen. Lassen sich diese beziffern?Mösle: Unsere Berechnungen haben ergeben, dass Cradle to Cradle eine Wertsteigerung von bis zu 10 % in Relation zu konventionellen Gebäuden ermöglichen kann. Man kann es sich so vorstellen, dass nach dem Cradle-to-Cradle-Prinzip geplante Gebäude sozusagen Rohstoffdepots sind. Sprich: Das für die Baustoffe gebundene Kapital geht nicht vollends verloren, wie heute üblich, sondern wird ähnlich einer mittel- bis langfristigen Wertanlage wieder mit der Wiederverwertung freigegeben. Die Immobilie wird damit zum Rohstofflager, dessen Wert in Zeiten einer sich verschärfenden Rohstoff-knappheit zudem noch kontinuierlich steigen könnte – und zwar überinflationär, so unsere Annahme. Darüber hinaus kann die Kreislauffähigkeit von Bauprodukten auch neue Geschäftsmodelle bieten: Verkauft wird nicht mehr das Produkt, wie zum Beispiel eine Lampe, sondern vielmehr nur dessen Funktion, also das Licht. Produkthersteller bleiben dabei im Besitz ihrer Rohstoffe und nehmen diese am Ende der Nutzungszeit wieder zurück und sichern sich hochwertige Materialien zu kalkulierbaren Preisen. Ihr Produktdesign können sie so ausrichten, dass die Wiederverwertung ihnen einen Nutzen bringt – und der Immobilienbesitzer spart sich wiederum die Entsorgung von möglichem Sondermüll. Cradle to Cradle hat also einen echten betriebswirtschaftlichen Mehrwert für alle am Bau Beteiligten. Das Interview führte Claudia Weippert-Stemmer.