Cum-ex: Die Herausforderung ist der Rechtsstaat
Thomas Fischer, der sich als Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof einen großen Namen gemacht hat und als ausgewiesener Kenner des Strafrechts fast täglich bei den Strafjuristinnen und -juristen in Deutschland mit dem von ihm seit Jahren herausgegebenen Kommentar zum Strafgesetzbuch in „aller Hände“ ist, hat in seinem Gastbeitrag am 12. Juni dieses Jahres an eben dieser Stelle eine Frage aufgeworfen, bei deren Beantwortung ich ihm gerne helfe – „Cum-ex: Was ist das Problem?“ Herr Fischer, Ihr Problem bei Cum-ex ist die fehlende Objektivität!
In den Cum-ex-Verfahren der Staatsanwaltschaft Köln – in ihnen ist auch Herr Fischer als Verteidiger eines erstinstanzlich Verurteilten aktiv – geht es nicht um Hütchenspielertricks. In akribischer Arbeit sind die Staatsanwältinnen und Staatsanwälte mit der strafrechtlichen Aufarbeitung von Vorwürfen befasst, die ihrer Ansicht nach als besonders schwere Steuerhinterziehung zu bewerten sind. Bislang hat diese Bewertung gerichtliche Bestätigung gefunden. Alle warten gespannt auf den in Kürze anstehenden ersten höchstrichterlichen Entscheid.
Herrn Fischer dürfte die Situation, in der sich die Justiz derzeit befindet, wohlbekannt sein. Das Säbelrasseln von allen Seiten, wenn die Waagschale der Justitia in Bewegung kommt, klingt ihm sicherlich noch gut in den Ohren. „Draußen, vor der Tür des Dienstzimmers, toben derweil die ‚Parteien‘: Die Angeklagten, Geschädigten, Anwälte, Zeugen, Besserwisser. Jeder von ihnen hat eine eigene Version der Wahrheit, […].“ So hat er das als „Fischer im Recht“ noch im Jahr 2017 in der „Zeit“ beschrieben. Hüten wir uns davor, der „Besserwisser“ zu sein, denn – und auch das ein „echter Fischer“: „Dass man von den Angehörigen […] keine Distanz erwarten kann, ist selbstverständlich. Der Rest der Gesellschaft aber sollte sie unbedingt aufbringen. Um des Rechtsstaats willen, […].“
Der Rechtsstaat verpflichtet zur Objektivität. Aktiengeschäfte, die in Vorabkalkulationen ihre sichere Gewinnerwartung darauf gründen, dass eine von keinem Beteiligten gezahlte Steuer „erstattet“ und dann über Absicherungsgeschäfte unter allen aufgeteilt wird, wecken in der Öffentlichkeit leicht nachvollziehbar ein eindeutiges Störgefühl. So ein Gefühl, dass da irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugegangen ist, kann die strafrechtliche Aufarbeitung jedoch nicht leiten. Den Weg gibt vielmehr allein das Strafrecht vor, das eine nüchterne Sichtweise verlangt. In emotionslosen, vergleichsweise knappen Worten beschreibt § 370 der Abgabenordnung die Steuerhinterziehung und erklärt auch, wann ein besonders schwerer Fall regelmäßig anzunehmen ist. Das ist die zentrale Vorschrift, an der sich alles messen lassen muss. Eine „Lex Cum-ex“, die ein unmoralisches System bestraft, gibt es nicht.
Bedeutung gewinnt das System „Cum-ex“ allerdings, weil es die Beschuldigten als „Bedienungsanleitung“ für die von ihnen betriebene Aktienmaschinerie genutzt haben. Justitia mögen die Augen verbunden sein, sie lässt sich aber nicht an der Nase herumführen. Es hat einige Zeit gedauert und intensive Ermittlungen erfordert. Aber es ist der Staatsanwaltschaft Köln gelungen, die „Bedienungsanleitung“ zu finden, sie zu verstehen und mit juristischem Handwerkszeug in die Kategorien des Strafrechts einzuordnen. Und dort bezeichnet man eine solche „Bedienungsanleitung“ als Tatplan!
Der entscheidende Durchbruch gelang – ungeachtet der ausstehenden abschließenden gerichtlichen Bewertung – durch Aussagen mehrerer an Cum-ex-Geschäften Beteiligter. Deren Aussagen in den Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft haben entscheidend dazu beigetragen, den „Cum-ex-Dschungel“ zu durchdringen, Handlungsstränge zu erkennen und die risikolose Gewinnverteilung ungeachtet vorangegangener Lieferketten zu verstehen. Ein finanziell attraktives Konstrukt – wen wundert es, wenn sich viele gefunden haben, die mitmachen wollten, wo doch das große Geld für alle lockte? Man wird nicht sagen können: Was nicht sein darf, gibt es auch nicht. Die Realität kann man sich nicht basteln.
Mit eben dieser Wirklichkeit befassen sich die Ermittlerinnen und Ermittler seit Jahren. Sie sind nicht Mitwirkende einer unterhaltsamen Reality-Show, keine fiktiven Figuren aus einem Comic oder Schauspieler in einem James-Bond-Krimi. Derartige Bilder, seien sie auch noch so eloquent und scharfzüngig in Worte gefasst, werden der Bedeutung der Sache und der Arbeit der Ermittler nicht gerecht.
Die Realität lässt sich dabei nicht verallgemeinern. Bestraft wird nicht das System. Jedes Ermittlungs- und jedes Strafverfahren befasst sich mit Menschen und ihrer individuellen Schuld. Es gilt stets, die wahrhaft Verantwortlichen zu ermitteln und zu bestrafen. Die bisherigen Verfahrensfortschritte bestätigen dies. Die akribische Ermittlungsarbeit hat mittlerweile zur Begründung eines Verdachts gegen mehr als 1000 Personen geführt. Diese Menschen und ihre jeweiligen Handlungen werden nicht über einen Kamm geschoren.
Dafür genügt bereits ein Blick in die ersten Cum-ex-Urteile des Landgerichts Bonn, in denen beispielsweise einer der Angeklagten teilweise freigesprochen wurde. Es gilt also nicht: Mitgefangen, mitgehangen. Das entspräche nicht dem Berufsethos der Staatsanwältinnen und Staatsanwälte sowie der Richterinnen und Richter. Der Rechtsstaat verpflichtet sie zur individuellen Bewertung jedes und jeder einzelnen mit jeder einzelnen verfahrensgegenständlichen Handlung und dem jeweiligen Nachtatverhalten. Nur im gesetzlich eröffneten Rahmen können Kronzeugen von ihrer Kooperation mit den Strafverfolgungsbehörden profitieren. Eine Schwarz-Weiß-Malerei findet nicht statt. Oder wie ließe sich sonst ein Haftbefehl gegen einen angeklagten, in der Schweiz wohnhaften Kronzeugen erklären, der sich seinem Strafverfahren nicht stellt?
Nur mit einer differenzierten Betrachtung jedes Einzelfalls kann eine objektive Bewertung gelingen, die – anders als eine sich in leeren Worthülsen wie „Dividendenstripping“ und „Steueroptimierung“ erschöpfende, empörte Äußerung – nicht auf einseitige Plattitüden baut. Das ist angesichts des Umfangs der aufzuklärenden Vorwürfe eine besondere Herausforderung, der sich die Justiz stellt.
Dieses aufwendige Unterfangen unterstütze ich im Sinne des Rechtsstaats, dem auch ich mich verpflichtet sehe, gerne. Deshalb habe ich in meiner Amtszeit die staatsanwaltschaftlichen und gerichtlichen Stellen erheblich aufgestockt. Zu Beginn meiner Amtszeit arbeitete die Staatsanwaltschaft Köln mit lediglich 2,5 Staatsanwältinnen und Staatsanwälten an den Cum-ex-Vorwürfen. Nunmehr ist dort eine eigene Hauptabteilung mit insgesamt 19 Dezernenten- und drei Abteilungsleiterstellen unter Führung der Hauptabteilungsleitung eingerichtet. Damit sind die organisatorischen und personellen Voraussetzungen für eine alleinige Fokussierung der Staatsanwältinnen und Staatsanwälte auf die hochkomplexen, in Köln nunmehr landesweit gebündelten Cum-ex-Verfahren geschaffen. Auch das Landgericht Bonn wird zur Bewältigung künftiger weiterer Anklagen verstärkt werden. Im Haushalt dieses Jahres sind hierfür insgesamt 27 neue Planstellen und Stellen, darunter neun für Richterinnen und Richter vorgesehen. Ein besonderes Augenmerk habe ich daneben darauf gerichtet, dass auch die gesetzlichen Rahmenbedingungen für eine konsequente strafrechtliche Aufarbeitung der Cum-ex-Vorwürfe geschaffen werden. Hierzu zählen die rückwirkende Verlängerung der Verfolgungsverjährung auf 15 Jahre und die Entkoppelung der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung von der steuerlichen Verjährung der Rückforderungsansprüche. Beides ist mittlerweile Gesetz, und beides ist maßgeblich angestoßen worden durch eine Gesetzesinitiative Nordrhein-Westfalens.
Die längere Verfolgungsverjährung ermöglicht eine individuelle, wohlüberlegte Aufklärung der einzelnen Taten auf allen Etagen der beteiligten Kreditinstitute. Und wenn steuerlich eine Rückforderung versäumt worden sein sollte, hindert dies die Justiz mit der Änderung des Abschöpfungsrechts nicht daran, Tätern ihre Beute zur Herstellung einer legalen Vermögenslage wieder wegzunehmen.
Ich bin mehr als zuversichtlich, dass wir nicht in das von Herrn Fischer selbst noch 2017 mit Blick auf die damalige Verfolgung von Cum-ex-Geschäften angestimmte Klagelied einstimmen müssen: „Fast alle Nachrichten enden mit dem Hinweis, die Sache sei überaus kompliziert. Die beklagenswert kleine Zahl von Ermittlern muss sich daher auf eine winzige Auswahl beschränken und selbst hierüber so lange grübeln, dass die ‚konsequente Bekämpfung‘ allenfalls ein paar besonders Einfältige unter den Verbrechern trifft und ansonsten mit symbolischen Schuldsprüchen oder preisgünstigen Verfahrenseinstellungen aus purer Erschöpfung endet.“
Sofern Herr Fischer aus diesem Gedanken mit seinem Rollenwechsel nunmehr eine Hoffnung schöpft, so dürfte die enttäuscht werden. Die Lage hat sich grundlegend geändert. Das ist – unabhängig davon, wie die Verfahren enden – ein Sieg des Rechtsstaats. Vielleicht ist aber genau das mittlerweile das Problem des Thomas Fischer.
Der Rechtsanwalt Peter Biesenbach (CDU) gehört seit 2017 dem Kabinett von NRW-Ministerpräsident Armin Laschet an. Er ließ sich für die von Gastautor Thomas Fischer in der Börsen-Zeitung vom 12. Juni scharf kritisierte ARD-Dokumentation „Der Milliardenraub“ interviewen.