Déjà-vu auf dem Tessiner Finanzplatz

Wieder tragen die Italiener ihre Ersparnisse über die Schweizer Grenze, dieses Mal ganz legal

Déjà-vu auf dem Tessiner Finanzplatz

Von Daniel Zulauf, ZürichDie sozialen Netzwerke sind voll davon, und auch die italienschen Medien berichten seit einigen Wochen umfangreich über den jüngsten Exodus von Spargeldern aus dem Stiefelland in die Schweiz. “Cresce l’allarme per la fuga di capitali all’estoro” – die Alarmzeichen einer Kapitalflucht nehmen zu – titelte unlängst die staubtrocken-seriöse Finanzzeitung “Il Sole 24 Ore” einen Artikel, der das “Phänomen” beschreibt. Gewöhnliche LeuteWährend sich die Regierung immer noch den Kopf darüber zerbreche, wie die privaten Haushalte zu mehr Investitionen in heimische Staatsanleihen motiviert werden könnten, habe der Abfluss italienischer Vermögen über die Landesgrenzen bereits eingesetzt, zitiert der Bericht “viele Zeugen” aus dem Banken- und Treuhandsektor. Die Rede sei nicht von großen Spekulanten. Vielmehr gehe es um die “gewöhnlichen Leute”. “Sie handeln ganz einfach, weil sie besorgt sind – zu Recht oder zu Unrecht.”Zum Umfang der Bewegung gibt es keine Statistiken, und von den größeren Banken in Lugano sind auf offiziellem Weg keine Informationen zu erhalten. Die Lokalzeitung “Corriere del Ticino” ließ sich den Trend hinter vorgehaltener Hand aber von lokalen Bankmitarbeitern bestätigen. Die Angst gehe um, die italienische Regierung könnte sich bei den einfachen Sparern bedienen, wenn die Finanzierung des Staatsdefizits unter der Last weiter steigender Zinsen zu schwer werden sollte.Zurzeit muss der italienische Staat eine zehnjährige Schuld zu rund 3,3 % verzinsen. Deutschland zahlt dafür lediglich knapp 0,4 %. Die Differenz von fast drei Prozentpunkten, der Spread, ist eine Art Fieberkurve. Je höher er ist, desto größer sind die Befürchtungen des Marktes über die Zahlungsfähigkeit des Landes. Bis zur Parlamentswahl Anfang März bewegte sich der Spread bei etwas über einem Prozentpunkt. “Investoren und Ratingagenturen waren davon ausgegangen, dass das öffentliche Defizit im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung des Landes weiter zurückgegangen ist. Nach den aktuellen Haushaltsplänen der Regierung würde der Verschuldungsgrad aber stabil bleiben”, erklärt UBS-Ökonom Matteo Ramenghi in Mailand. “Diese Differenz führte zu einer heftigen Reaktion am Markt und trieb den Zinsaufschlag in die Höhe.”Mit den höheren Zinsen steigen für den Staat die Kosten der Refinanzierung der Staatsschuld von 2,3 Bill. Euro. “Einige befürchten, dass die Regierung versucht sein könnte, zusätzliche Ausgaben durch die Ersparnisse der privaten Haushalte zu decken. Diese sind etwa viermal so hoch wie die gesamte Staatsverschuldung”, sagt Ramenghi. Doch derartige Befürchtungen erscheinen wenigstens aktuell überzogen. Italien hat sich in den vergangenen Jahren zu sehr tiefen Zinsen quasi auf Vorrat refinanziert und die durchschnittliche Laufzeit der Schulden auf sieben Jahre ausgedehnt. Das Land ist also gut auf einen Zinsschock vorbereitet. Die Angst bleibtDiese Gewissheit vermag die Angst der italienischen Sparer aber offenbar nicht zu verjagen. Und es ist auch kaum die Furcht vor einer neuen Vermögensteuer, die das Geld ins Ausland treibt. Seit es den automatischen Informationsaustausch in Steuersachen gibt, weiß der italienische Fiskus, wo und wie viel Vermögen die Steuerpflichtigen in der Schweiz und in anderen Ländern besitzen. “Bei uns gibt es keine undeklarierten italienischen Gelder mehr”, sagt Franco Citterio, Direktor der Tessiner Bankiervereinigung. Dass das Interesse der Italiener an einem Konto in der Schweiz dennoch wieder zunimmt, bestätigt aber auch er. Es gehe mehr um ein generelles Sicherheitsbedürfnis in einem aktuell unsicheren Umfeld, erklärt er die Nachfrage. Eine Rolle spielten möglicherweise auch Befürchtungen um die Stabilität des italienischen Bankensystems, meint er. Die Kapitalausstattung und die Profitabilität vieler italienischer Banken ist mager, und auf ihren Bilanzen liegen haufenweise notleidende Kredite. Sollten die steigenden Zinsen das noch schwache Wirtschaftswachstum im Land abwürgen, was nach den jüngsten Daten zum dritten Quartal tatsächlich befürchtet werden muss, würde sich die Lage der Banken verschlimmern.Von großen Wörtern wie Kapitalflucht nimmt Citterio aber Abstand. “Das Ganze ist auch ein mediales Phänomen, das ein Klima der Angst erzeugt.” Im Tessin ist man es gewohnt, in Krisenzeiten die Rolle des Puffers für den großen Nachbarn zu spielen. “Es ist eine ewige Hassliebe”, sagt Citterio. Zuletzt sah man die Eidgenossen im Nachbarland oft als Profiteure und Krisengewinnler und dachte dabei in erster Linie an den Finanzplatz mit seinen Banken, die lange italienischen Steuerflüchtlingen Unterschlupf gewährt hatten.Umgekehrt hat Italien in der Schweiz wirtschaftspolitisch einen notorisch schlechten Ruf. In den 1960er und 1970er Jahren waren es die Abwertungswettläufe der Lira, mit denen Italien im internationalen Wettbewerb den Schweizern mit ihrem starken Franken regelmäßig die lange Nase machten.