ANSICHTSSACHE

Dem freien Markt eine Chance geben

Börsen-Zeitung, 9.5.2020 Die Coronakrise hat weltweit zu einem rekordhohen Einbruch der Wirtschaftsleistung und Anstieg der Arbeitslosenzahlen geführt. Regierungen und Zentralbanken haben ihrerseits mit rekordhohen Hilfspaketen reagiert. Für Anleger...

Dem freien Markt eine Chance geben

Die Coronakrise hat weltweit zu einem rekordhohen Einbruch der Wirtschaftsleistung und Anstieg der Arbeitslosenzahlen geführt. Regierungen und Zentralbanken haben ihrerseits mit rekordhohen Hilfspaketen reagiert. Für Anleger ergeben sich daraus drängende Fragen: Wer wird das wann in welcher Form bezahlen müssen? Welche Auswirkungen haben Krise und Krisenmanagement auf Zinsen und Inflation? Setzt die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes ihren jahrelangen Abwärtstrend fort und trägt damit dazu bei, dass die zusätzliche Liquidität sich weiterhin in den Vermögenswerten zeigt und weniger in Preissteigerungen von Realgütern und Dienstleistungen? Wie bewältigen die Staaten ihre rekordhohen Schulden? Über ein Hinauswachsen mittels fiskalisch getriebenen Wachstums oder schlicht über Inflation? Mittels Steuererhöhung oder durch Ausgabensenkung? Welche Sektoren werden nach der Krise zu den Gewinnern gehören?Für Anlagestrategien sind die Antworten ebenso essenziell wie für das Gefüge unserer Gesellschaften, behandeln sie letztlich doch auch Verteilungsfragen: Wer bekommt was, wer bezahlt was? So schnell, wie die Milliardenpakete in Krisenzeiten geschnürt werden müssen, ist es unvermeidbar, dass es zu Unstimmigkeiten kommt. Diese können schlimmstenfalls in der Bevölkerung als ungerecht empfunden werden, was wiederum den Staatsverdruss schüren könnte. Unseres Erachtens kommt in der jetzigen Diskussion eine weitere Verteilungsfrage zu kurz. Eine, deren Wirkung über die aktuelle Krise hinausgeht, da sie an den Fundamenten unserer freien Marktwirtschaft rüttelt. Es geht um die Preisfindung. Insbesondere jene an den Kapitalmärkten, da sich an ihr auch ein Großteil des übrigen Wirtschaftsgeschehens orientiert. Die Interventionen der Regierungen und insbesondere der Zentralbanken verwässern den Informationsgehalt dieser Preise. Der Bezug zu den realwirtschaftlichen Determinanten von Investitionen schwindet, womit die Preise ihrer Funktion als Lenkungsinstrument nicht mehr gerecht werden können. Kein neues PhänomenDas ist kein neues Phänomen. Es gewann mit dem Scheitern des Goldstandards 1973 an Fahrt. Doch die Fahrt wird immer rasanter. Ob die Rettung des Hedgefonds LTCM im Jahr 1998, das Laisser-faire der US-Fed zur Jahrtausendwende, die Interventionen im Rahmen der Finanzkrise oder eben jetzt die billionenschweren Rettungspakete – die Geschwindigkeit und die Dimension, in der ein als “dysfunktional” gebrandmarkter Kapitalmarkt wieder in die gewünschte Spur gedrängt wird, kennen nur eine Richtung: schneller und größer.Kurzfristig bergen solche Eingriffe in das freie Kräftespiel von Angebot und Nachfrage Konflikt- und Enttäuschungspotenzial. Schließlich lässt sich nie vermeiden, dass gewisse Marktsegmente, und damit Anleger, bevorzugt werden. Wer etwa darf sich in Krisenzeiten direkt bei der Zentralbank Liquidität besorgen? In welchen Marktsegmenten tritt die Zentralbank direkt als Käufer auf? Setzt sie falsche Anreize, wenn sie sich auch im spekulativeren Anleihesegment engagiert?Die längerfristigen Effekte der Marktinterventionen bergen noch größere Probleme, für die gesamte Volkswirtschaft. Letztlich geht es um die effiziente Ressourcenallokation. Dem Grundgedanken der freien Marktwirtschaft, dass sich im Zusammenspiel vieler kleiner Anbieter und Abnehmer jener Preis findet, der Angebots- und Nachfragemenge ausgleicht. Übertragen auf den Kapitalmarkt heißt das: Eine Investition, die von vielen Anlegern als besonders risikoreich angesehen wird, muss eine höhere Rendite offerieren, um Abnehmer zu finden. Risikoarme Anlagen finden ceteris paribus mehr Abnehmer und können daher eine niedrigere Rendite anbieten. Für die Funktion der Märkte müssen neben anderen Bedingungen zudem die Marktteilnehmer die Verantwortung für ihre Entscheidung übernehmen.In beide Punkte greifen die Zentralbanken immer öfter ein, die unerwünschten Nebenwirkungen lassen sich an zwei Beispielen festmachen. Bei Unternehmensanleihen kann der preisunsensible Käufer dafür sorgen, dass sich auch solche Firmen weiter refinanzieren können, die ansonsten unter ihrem Schuldendienst kollabieren würden. Da regelmäßig nur größere, etablierte Firmen sich am Anleihemarkt refinanzieren können, erschwert deren so gestärktes Verharrungsvermögen es jüngeren, effizienter arbeitenden Firmen, sich auf dem Markt zu behaupten. Man muss nicht gleich von der “Zombifizierung” einer Wirtschaft sprechen, aber von subventionierten Kapitalkosten über den Rückgang unternehmerischer Dynamik bis hin zu einem Rückgang des gesamtwirtschaftlichen Produktivitätszuwachses und somit letztlich des Potenzialwachstums ist es kein unendlich langer Weg.Da auch Staaten bei der Kreditaufnahme im Wettbewerb mit anderen Kapitalnachfragern stehen, spiegelt der Zins hier ebenfalls das Votum vieler einzelner Geldgeber über die Kreditwürdigkeit und die Attraktivität dieses Landes wider. Ein schöner Nebeneffekt dieses anonymen “Kreditratings”: Man kann keinen einzelnen Sündenbock für steigende Finanzierungskosten personifizieren. Zudem können Staaten Reformen vor ihrer Wählerschaft mit dem damit einhergehenden geringeren Schuldendienst rechtfertigen. Gefährliches TerrainDaher betreten Zentralbanken ein gefährliches Terrain, wenn sie granular intervenieren etwa mit dem Ziel, die Risikoprämien gewisser Länder oder Unternehmen regeln zu wollen. Wenn diese Spreads nicht mehr im freien Spiel der Märkte ermittelt werden, sondern durch Modelle einer Expertengruppe, ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zur Planwirtschaft. Ihr Konzept konnte bisher weit weniger überzeugen als das freier Märkte. Stefan Kreuzkamp ist Chefanlagestratege der DWS. In dieser Rubrik veröffentlichen wir Kommentare von führenden Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus Politik und Wissenschaft.—–Von Stefan KreuzkampWenn die Spreads nicht mehr im freien Spiel der Märkte ermittelt werden, sondern durch Modelle einer Expertengruppe, ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zur Planwirtschaft.—