Den Wandel mutig gestalten

Was Industrieunternehmen aus Baden-Württemberg heute tun müssen, um im globalen Wettbewerb von morgen weiterhin erfolgreich zu bestehen

Den Wandel mutig gestalten

Wir schreiben das Jahr 1903. Die Ontario Power Company vergibt einen Auftrag zur Lieferung von Wasserturbinen. Sie sind für das Kraftwerk bestimmt, das das Unternehmen auf der kanadischen Seite der Niagarafälle betreibt. Der Auftrag geht nach Europa. Genauer nach Württemberg: an die Maschinenfabrik Voith aus Heidenheim. Insgesamt zwölf Wasserturbinen soll Voith für die Kanadier bauen. Es werden Komponenten der Superlative, denn Voith schafft es, die damals größten Wasserturbinen der Welt zu produzieren. Das transkontinentale Geschäft mit den Nordamerikanern ist für die damalige Zeit ein ausgesprochen mutiges und am Ende erfolgreiches Unterfangen. Der Auftrag aus Kanada festigt nicht nur den Ruf des Unternehmens als Wasserkraftexperte. Er macht den damaligen Maschinenbauer von der Ostalb endgültig zum internationalen Player. Erfolgreiche HistorieGeschichten wie diese können viele Unternehmen aus Baden-Württemberg erzählen. Sie sind ein Beleg für den Erfindergeist und den starken industriellen Kern, die hier zu Hause sind. Erfinderpersönlichkeiten wie Gottlieb Daimler, Robert Bosch, Carl Benz oder Friedrich Voith waren Industrie-Pioniere, die den Wirtschaftsstandort Baden-Württemberg maßgeblich geprägt und seinen Ruf als technologische Keimzelle Deutschlands begründet haben. Diese Persönlichkeiten haben all das verkörpert, wofür erfolgreiche baden-württembergische Unternehmen auch heute noch stehen: Innovationsstärke, höchstes Qualitätsbewusstsein, Kundenorientierung, langfristiger unternehmerischer Weitblick und soziale Verantwortung.Die Geschichte von Voith und den Niagarafällen macht aber noch eines deutlich: Mit Erfolg belohnt wird, wer mutig vorangeht, neue Wege beschreitet, unkonventionelle Lösungen findet und notwendige Veränderungen ohne Zögern anstößt und umsetzt.Unternehmerischer Mut ist auch heute eine wichtige Voraussetzung, um in Zukunft als Unternehmen auf den Weltmärkten erfolgreich zu sein. Die Welt verändert sich wie niemals zuvor in den vergangenen 50 Jahren: Neue Märkte entstehen, die Digitalisierung schreitet voran, die Arbeitswelt verändert sich, der Zugang zu Bildung und Wohlstand wird für viele Menschen leichter, neues Konsum- und Freizeitverhalten entwickeln sich. Und damit verändern sich auch die Bedürfnisse von Menschen weltweit.Künftig werden nur diejenigen Unternehmen erfolgreich sein, die diesen Wandel mitgehen und ihn erfolgreich mitgestalten. Drei Voraussetzungen sind aus meiner Sicht entscheidend, damit dieser Wandel gelingen kann:1. Die Chancen der Digitalisierung ergreifen und die digitale Transformation schaffenKaum woanders ist die Veränderung, die sich gerade vollzieht, so spürbar wie bei der digitalen Transformation. Viele Akteure aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik sprechen von der vierten Industriellen Revolution, die bereits voll im Gange ist. Die Möglichkeiten, die die Digitalisierung schon heute Unternehmen bietet, um große Datenvolumina schnell und kostengünstig zu verarbeiten, werden den gesamten industriellen Fertigungsprozess umwälzen. Darüber hinaus wird es gelingen, mit den Daten, die von den Maschinen und Anlagen erzeugt werden, gemeinsam mit den Nutzern der Maschinen und Anlagen, also unseren Kunden, neue Geschäftsmodelle während des gesamten Lebenszyklus der Anlagen zu entwickeln.Und nicht nur das. Der digitale Strukturwandel ist ein technologischer und ein gesellschaftlicher Prozess, der tief greifende Veränderungen in allen Bereichen nach sich ziehen wird. Doch kaum ein anderes Thema ist auch mit so vielen Unsicherheiten verbunden. Wichtige Stichworte sind hier das Domänenwissen, die Datenhoheit und Datensicherheit. Motor der EntwicklungEntscheidend für die Zukunft des Wirtschaftsstandortes Baden-Württemberg wird sein, wie sich Unternehmen beim Thema Digitalisierung aufstellen und die “Industrie 4.0” gestalten. Wenn in Fabriken künftig Baukomponenten eigenständig mit den Produktionsrobotern kommunizieren, wenn intelligente Produktionsmaschinen Fertigungsprozesse eigenständig koordinieren, wenn Busflotten per Ferndiagnose gewartet werden oder Wasserkraftwerke intelligent mit anderen Stromerzeugern kommunizieren und ständig im Austausch etwa bezüglich Stromerzeugung, -verteilung und -speicherung stehen, immer dann sollten hier Innovationen und Technologien “Made in Baden-Württemberg” zum Einsatz kommen.Baden-Württemberg kann ein Motor der weltweiten Entwicklung der vierten industriellen Revolution sein: Kaum eine andere Region in Deutschland bietet eine derartige Bündelung von Industrieunternehmen – angefangen bei der Automobilproduktion über die Zulieferindustrien bis zum Maschinen- und Anlagenbau, vertreten die durch viele Familienunternehmen im Land. Die Chance, die für Baden-Württemberg in der Industrie 4.0 liegt, wird auch von der Politik gesehen, wie der Besuch von Ministerpräsident Winfried Kretschmann Anfang des Jahres im kalifornischen Silicon Valley zeigt. Wenn die baden-württembergischen Industrieunternehmen gemeinsam mit Politik und Wissenschaft den Mut haben, die Vision eines “Swabian Valley” der Industrie 4.0 zu entwickeln, kann die Region zu einem Schrittmacher in diesem Zukunftsfeld werden.2. Sich in den Märkten tiefer verwurzelnDie wirtschaftspolitischen Gewichte der Welt verschieben sich rasant und irreversibel. Besonders Länder in Asien sind auf dem Weg zu modernen und selbstbewussten Technologiegesellschaften. Diese “Länder” sind dabei, den “alten” Wirtschaftszentren in Europa den Rang abzulaufen. Besonders China entwickelt sich – trotz aktueller Abkühlung – langfristig zu einer wirtschaftlichen Supermacht. Wie viel Potenzial in diesem Land steckt und wie viele Absatzchancen für Unternehmen, lässt sich etwa am Bruttoinlandsprodukt (BIP) ablesen: Im Jahr 2014 lag das BIP pro Kopf in China bei geschätzt rund 7 300 Dollar – in Deutschland dagegen bei rund 36 000 Dollar. Noch immer viel Potenzial für Wachstum in China. Und auch wenn sich das Wirtschaftswachstum im Reich der Mitte derzeit gegenüber früheren Wachstumsraten verlangsamt, wird China nach wie vor jedes Jahr deutlich stärker wachsen als die “reifen” Märkte in Europa.Länder wie China haben einen enormen Nachholbedarf an Waren, Dienstleistungen und Investitionsgütern. Wer glaubt, diese Märkte einfach von Baden-Württemberg aus als Exportweltmeister mit in Deutschland entwickelten Produkten zu beliefern, irrt: Die neuen Märkte sind anspruchsvoll. Sie brauchen Produkte, die speziell für ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind – entwickelt, produziert und vertrieben von Fachkräften, die in diesen Märkten zu Hause sind. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für Unternehmen aus Baden-Württemberg verändern sich damit fundamental. Unternehmen, die in den neuen Märkten auf Dauer Fuß fassen wollen, müssen sich ihnen öffnen, vor Ort präsent sein, sich lokal verwurzeln, Verantwortung auf einheimische Mitarbeiter verteilen. Nur dann wird es gelingen, die neuen Chancen, die sich hier bieten, voll auszuschöpfen und nachhaltig erfolgreich zu sein.3. Durch lokale Wertschöpfung den globalen Erfolg sichern”Die Industrie verlagert doch nur Wertschöpfung weg aus Deutschland, um Lohnkosten zu sparen.” Das ist häufig ein kritischer Einwand, wenn von lokaler Verwurzelung die Rede ist. In sehr vielen Fällen ist diese Kritik unberechtigt. Ein solcher Ansatz wäre viel zu kurz gedacht und meiner Überzeugung nach langfristig für die deutsche Industrie und ihre High-Tech-Ausrichtung auch nicht erfolgreich. Wir lokalisieren Wertschöpfung, um langfristig und dauerhaft in den Wachstumsmärkten erfolgreich zu sein. Durch die Partizipation an den lokalen Wachstumsmärkten können sich Unternehmen ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit bewahren, ihre Erfolge in den “reifen” Märkten festigen und die in den neuen Märkten ausbauen. Ich bin überzeugt: Unternehmen, die nicht den Mut haben, in den Wachstumsmärkten heimisch zu werden und sich lokal zu verwurzeln, werden langfristig unbedeutend werden. Denn ihnen erwächst in unseren Tagen mächtige Konkurrenz in diesen Ländern, die über kurz oder lang auch in Deutschland und Europa – in unserem Heimatmarkt – Anteile erobern wird. Digitale TransformationDer Wille, die digitale Transformation zu schaffen, weitere Bemühungen zur lokalen Verwurzelung, starker lokaler Fokus für mehr globalen Erfolg – Unternehmen, die diese Voraussetzungen in Zukunft erfüllen, werden den Wandel erfolgreich gestalten. In Baden-Württemberg gibt es dafür die besten Bedingungen: gute Ideen, innovative Produkte und qualifizierte Mitarbeiter und einen starken, über Jahrzehnte und Jahrhunderte gewachsenen industriellen Kern, wie er in Deutschland und Europa selten ist. Und darüber hinaus viel Mut und Beharrungsvermögen, um die Position des Wirtschaftsstandorts Baden-Württemberg erfolgreich auszubauen. Industrieunternehmen und Unternehmer im Ländle waren die Pioniere der ersten industriellen Revolution. Mit Mut zum Wandel werden Firmen aus Baden-Württemberg auch diese wirtschaftliche Revolution maßgeblich mitgestalten.—Hubert Lienhard, Vorsitzender der Konzerngeschäftsführung der Voith GmbH