Risiken

Der blinde Fleck: Klimawandel und Offenlegungsstandards

Banken neigen dazu, nicht quantifizierbare Risiken auch dann zu übersehen, wenn sie sich deutlich abzeichnen. Doch jetzt verschiebt der Klimawandel die Grenzen der Offenlegung finanzieller Risiken.

Der blinde Fleck: Klimawandel und Offenlegungsstandards

Finanzinstitute neigen dazu, nicht quantifizierbare Risiken zu übersehen, obgleich sie sich deutlich abzeichneten. Nun verschiebt der Klimawandel die Grenzen der Offenlegung finanzieller Risiken – in noch unbekanntes Gebiet. Unser Finanzsystem hat sich bis vor kurzem zur Prognose von Ergebnissen vollständig auf die isolierten Theorien seiner „Standardmodelle“ verlassen. So bilden etwa die Markteffizienzhypothese und das damit verbundene Preismodell für Kapitalgüter oftmals die Grundlage für Risiko-Rendite-Prognosen für Aktienanleger. Auch Anleiheanalysten verlassen sich auf verschiedene statistische Instrumente und Annahmen, um die relativen Risiken und Renditen von Fixed-Income-Portfolios abzuschätzen.

Doch obwohl Finanzmodelle in sich mathematisch solide sind, können sie nicht alle Risiken in ihren Formeln berücksichtigen. Die weltweite Finanzkrise von 2007/2008 war ohne jeden Zweifel der bedeutendste aktuelle Warnschuss, dass Anleger die „blinden Flecken“ der Märkte nicht ignorieren sollten, die sich jenseits der Grenzen statistischer Standardabweichungen befinden.

Nebeneffekt der Krise

Trotz des Systemschocks hatte die globale Finanzkrise zumindest einen positiven Nebeneffekt: Sie veranlasste Regulierungsbehörden und Anleger dazu, alternative Modelle in Betracht zu ziehen. Diese nehmen Risiken in den Randbereichen der Normalverteilungskurve unter die Lupe, wo sich die „Schwarzen Schwäne“ tummeln.

Die Krise sorgte dafür, dass Szenarien- oder Stresstests sich als Mittel der Wahl etablierten, um zu untersuchen, was unter den schlimmsten aller möglichen Umstände passieren könnte.

In seinen Memoiren zur globalen Finanzkrise („Stress Test“) erläutert der ehemalige US-Finanzminister Tim Geithner, warum Regulierer und Risikomanager „sich von der Annahme verabschieden müssen, dass ein schwerwiegender Schock unwahrscheinlich sei, und sich stattdessen mit den möglichen Auswirkungen im Falle seines Eintretens befassen sollten“. Geithners Warnung gilt gleichermaßen für Risiken, deren Ursprung außerhalb des traditionellen Finanzsystems liegt – und wo die einflussreiche Kraft des Klimawandels nun von Regulierungsbehörden, Anlegern und der Öffentlichkeit ernst genommen wird.

Angeleitet durch Regulierungsbehörden in aller Welt arbeiten Unternehmen und institutionelle Anleger mit Nachdruck daran, Klimarisiken in ihre Finanzprognosen und Strategien zu integrieren. Die formelle Beurteilung von Klimarisiken in Finanzprognosen gewinnt besonders in Ländern und Regionen an Fahrt, in denen Regierungen klare umweltpolitische Vorgaben erlassen haben. Europa dürfte weltweit führend sein, was das Vorantreiben der Agenda der Klimarisikoprüfungen anbelangt. So waren es französische Finanzinstitute, die im April dieses Jahres als Erste ihre Ergebnisse nach neuen Richtlinien veröffentlichten.

Klimarisiken im Fokus

Die meisten Regulierungsbehörden entwickeln Regeln zur Klimaberichterstattung in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen auf Grundlage der vom globalen Network for Greening the Financial System (NGFS) veröffentlichten Szenarien und Leitfäden. Die Europäische Zentralbank (EZB) beabsichtigt, wichtige Banken in der Region ab 2022 auf Klimarisiken zu überprüfen. Regulierungsbehörden in Australien, Brasilien, Hongkong, Kanada und Singapur haben angekündigt, in diesem oder dem kommenden Jahr vergleichbare Tests durchzuführen.

2019 setzte die Bank of England (BoE) sich das Ziel, in ihrem ersten Stresstest dieser Art rund 80 % des britischen Bankensystems auf klimabedingte Geschäftsrisiken zu überprüfen. In diesem Juni hat die BoE einen ambitionierten und umstrittenen Plan bekannt gegeben, der von ausgewählten Banken verlangt, ihre 100 „größten und bedeutendsten“ Unternehmenspartner einem Klimaszenariotest zu unterziehen. Noch ist nicht ganz klar, wie die Klimastresstests der BoE sich in Standard-Bankkennzahlen übersetzen lassen, beispielsweise in Prozent des Kreditbestands oder als Anteil an den risikogewichteten Aktiva.

Wir können die Auswirkungen, die die 100 Unternehmen auf die finanziellen Bewertungsmaßstäbe der Bank haben werden, auf verschiedene Weise berechnen. In jedem Fall hat die BoE damit eine Mindestanforderung festgelegt und erwartet von den Finanzinstituten, ihre klimabezogenen Risikotests mit der Zeit auszuweiten. Einen Anhaltspunkt lieferten Gespräche mit Barclays, einer Bank mit einer soliden Klimastrategie, die wir in unseren Portfolios halten und die angab, dass die 100 „größten und bedeutendsten“ Unternehmen rund ein Drittel ihres Bestands ausmachen. Basierend auf Daten der EZB gaben rund 90 % aller Banken an, die Standards zur Klimaberichterstattung gar nicht oder nur zum Teil einzuhalten.

Mehr als die Hälfte aller Banken unter EZB-Aufsicht verfügen nicht über einen formellen Prozess zur Beurteilung von Klimarisiken. Nur 40 % haben die Verantwortung von Führungskräften für das Risikomanagement ausdrücklich geregelt. Lediglich ein Viertel der Institute melden ihre Klimarisiken an die Unternehmensführung.

Wissen, was man nicht weiß

Sollten Klimarisiken für europäische Bankfinanzmodelle noch immer „blinde Flecken“ sein – so lautet die gute Nachricht, dass die Finanzinstitute nun zumindest wissen, was sie nicht wissen. Trotz der schlechten Ausgangssituation wird die Offenlegung von Umweltrisiken durch Banken und Unternehmen sich unter dem Druck von regulatorischen Vorschriften einerseits und der Anlegernachfrage nach klimabezogenen Informationen andererseits unweigerlich verbessern.

Vollständige klimabezogene Transparenz wird Banken vor die schwierige Aufgabe stellen, Umweltrisiken in ihren Kredit- und Anlageportfolios zu beurteilen. Am Ende jedoch steht ein lohnendes Ergebnis: langfristige finanzielle Resilienz in einer Phase sich beschleunigenden planetaren Wandels. Die Einführung der Klimaberichterstattung in das Finanzuniversum könnte zudem der Auslöser für ein weitreichendes Bewusstsein dafür sein, wie real und ernst die Risiken jenseits unserer Geschäftsergebnisse sind – denn diese „blinden Flecken“ existieren, auch wenn wir sie noch zu oft übersehen.

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