Der Brexit als Beginn einer neuen Zusammenarbeit
Seit Jahresanfang ist der Brexit Realität und mit dem Ende der Übergangsfrist hat das Vereinigte Königreich endgültig die Europäische Union verlassen. Die Einigung auf den “Deal” erfolgte sprichwörtlich in letzter Minute. Doch Zeit, sich von den zähen Verhandlungen mit London zu erholen, bleibt nicht. Zu groß und komplex sind die Aufgaben, vor denen die EU-27 steht: Seien es die Bewältigung der Pandemie, die Umsetzung des Green Deal oder die Vollendung der Kapitalmarktunion als weiteren zentralen Integrationsschritt.Das Abkommen zu den künftigen Beziehungen zwischen Union und Königreich umfasst mehr als 1 200 Seiten und bietet dennoch eher wenig Substanz. Dies liegt vor allem an der Widersprüchlichkeit der britischen Seite. Einerseits will man aus offensichtlichen wirtschaftlichen Gründen eine möglichst enge Beziehung zur EU und ihrem Binnenmarkt. Gleichzeitig legt man größten Wert auf Souveränität und die Eigenständigkeit beim Thema Regulierung. Schließlich war und ist dieser Aspekt für die Brexiteers einer der wesentlichen Gründe für den EU-Austritt.Doch auch aus Sicht der EU hat die Medaille zwei Seiten: Selbstverständlich kann ein aus der EU ausgetretenes Vereinigtes Königreich aus ihrer Perspektive nicht den gleichen umfassenden und einfachen Zugang zum europäischen Binnenmarkt haben wie ein Mitgliedstaat. Gleichzeitig profitiert Europa vom freien Handel mit Großbritannien und von offenen Wirtschaftsräumen. Das Handelsabkommen ist daher vor allem eines: die gemeinsame Basis, um die künftigen Wirtschaftsbeziehungen neu und ohne die Zerwürfnisse eines harten Brexits zu regeln.Das gilt auch für den Finanzsektor. Wie der gesamte Dienstleistungssektor spielt die Branche zwar im Vertragstext so gut wie keine Rolle. Doch allein die Existenz des Abkommens ist ein wichtiges Signal für den Finanzsektor, das zur Zusammenarbeit aufruft. So kann das Abkommen eine gemeinsame Basis sein, um mit der Zeit weitere Brücken zwischen der EU und Großbritannien im Bereich der Finanzdienstleistungen zu schlagen. Beispielsweise durch eine Zusammenarbeit in Regulierungsfragen, wie sie in einer gemeinsamen Erklärung im Anhang des Vertrags ja auch angekündigt wird.Dass bei den schwierigen Handels- und Regulierungsfragen schlussendlich doch ein Abkommen mit UK erreicht wurde, ermöglicht es der Kommission, auch bei den Finanzmarkt-Themen eine positivere Haltung anzunehmen, etwa bei der Frage nach der Einstufung der britischen Finanzmarktregulierung als “äquivalent” zum EU-Regelwerk. Epochale Herausforderungen Ein gutes Miteinander bleibt im Interesse beider Seiten. Die Finanzzentren auf dem Kontinent haben zwar aufgrund des Brexits an Bedeutung gewonnen und auch in Form zusätzlicher Ansiedlungen von Unternehmen und Arbeitsplätzen profitiert. Beispielsweise haben seit dem Brexit-Referendum von 2016 mehr als 60 internationale Finanzdienstleister bekanntgegeben, ihre Geschäftstätigkeiten und -funktionen nach Luxemburg zu verlagern; unter anderem Banken, Vermögensverwalter, Versicherungen und Zahlungsdienstleister. Doch die Finanzplätze in der EU und London brauchen einander weiterhin.Aus EU-Perspektive lassen sich die epochalen Herausforderungen, vor denen die Industrie steht, in einer pragmatischen Zusammenarbeit mit London effizienter angehen. Denn die City wird ein wichtiger globaler Finanzplatz mit einem einzigartigen Ökosystem bleiben. Zum Beispiel ist London führend in der Digitalisierung von Finanzdienstleistungen und ist weltweite Fintech-Hauptstadt.Auch bei der Bewältigung der Corona-Pandemie und deren wirtschaftlichen und sozialen Folgen sind das in London gebündelte Know-how und die Plattform ein großer Gewinn. Der Banken- und Finanzsektor wird eine wichtige Rolle spielen sicherzustellen, dass die Mittel dort zur Verfügung gestellt werden, wo sie benötigt werden.Die größte Herausforderung ist ohne Frage die nachhaltige Finanzierung der Bekämpfung des Klimawandels und sozialer Ungleichheiten. Auch hier lässt sich mehr erreichen, wenn die europäische Finanzindustrie im engen Schulterschluss mit London arbeitet. Die Aufgaben sind zu groß, als dass sie jeder Akteur für sich allein lösen könnte. Und erst recht wird es nicht funktionieren, wenn dabei alle nur den Fokus darauf legen, eigene Marktanteile auf Kosten des jeweils anderen auszubauen.Diese Herausforderungen ebenso wie Europas Rolle zwischen den größeren Wirtschaftsblöcken in Asien und Nordamerika erfordern mehr und nicht weniger Kooperation. Das gilt innerhalb der EU ebenso wie im Zusammenspiel zwischen London und dem Kontinent. Nur wenn wir Fachwissen und die große Expertise der verschiedenen Finanzzentren bestmöglich verknüpfen und gemeinsam nutzen, können wir einen echten europäischen Kapitalmarkt schaffen und uns an die Spitze der Transformation zu einem nachhaltigen Finanzwesen setzen.Alle europäischen Finanzzentren dies- und jenseits des Ärmelkanals haben hierfür wichtige Kompetenzen und Netzwerke, die sie einbringen sollten – im Sinne Europas und im eigenen Interesse. Nicolas Mackel, CEO Luxembourg for Finance