GASTBEITRAG

Der Kapitalmarktunion neues Leben einhauchen

Börsen-Zeitung, 28.9.2019 Die neue Kommission der Europäischen Union steht in den Startlöchern. Damit drängt sich unweigerlich die Frage auf, welche Themen und Projekte das neue Führungsteam in Angriff nehmen sollte. Hinsichtlich der großen und...

Der Kapitalmarktunion neues Leben einhauchen

Die neue Kommission der Europäischen Union steht in den Startlöchern. Damit drängt sich unweigerlich die Frage auf, welche Themen und Projekte das neue Führungsteam in Angriff nehmen sollte. Hinsichtlich der großen und wichtigen Finanzthemen bedarf es weder neuer Regulierung noch neuer Gesetze. Im Gegenteil: Es würde vollkommen genügen, sich auf das zu konzentrieren, was bereits vorhanden, aber noch nicht vollendet ist.Die Kapitalmarkt- und die Bankenunion wurden eingeführt, um das Zusammenwachsen, die Sicherheit und Flexibilität des kontinentaleuropäischen Finanzsystems zu gewährleisten. Jedoch gibt es noch viel zu tun, ja, grundlegende Veränderungen müssen her, damit das Ziel tatsächlich erreicht wird.Was ist Sinn und Zweck der Kapitalmarktunion? Sie soll die Abhängigkeit des Unternehmenssektors vom Bankkredit verringern. Das wurde indes in nur sehr überschaubarem Maße erreicht. Neusten Daten zufolge sind nur 14 % aller Unternehmensfinanzierungen in Europa kapitalmarktbasiert. Dieser Anteil lässt auf vieles, nur nicht auf effiziente Kapitalmärkte schließen. Auch grenzüberschreitende Investitionen kommen nach wie vor nur in sehr begrenztem Umfang vor. Deshalb sind es die Banken, die oftmals den Großteil der Unternehmensfinanzierung übernehmen.Diesen Zustand zu verändern, ist aus mehreren Gründen wichtig. In Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit profitieren Unternehmen jeder Größe von einer größeren Auswahl an Refinanzierungsmöglichkeiten und liquiden Kapitalmärkten. Mehr Emissionen in Euro würden das Profil und die Bedeutung der Einheitswährung sowohl auf den inländischen als auch auf den internationalen Märkten stärken. Regionale KompetenzzentrenGanz grundsätzlich könnten effiziente Kapitalmärkte die Integration der Europäischen Union vorantreiben. Zurzeit bildet sich eine vielseitige Landkarte von Finanzzentren auf dem Kontinent heraus, etwa in Frankfurt, Paris, Mailand und Dublin. Jedes Zentrum hat seine eigene Spezialisierung und Besonderheiten. Mit einer effektiven Kapitalmarktunion, die als Rahmen fungieren könnte, könnten die einzelnen Zentren viel besser interagieren und kooperieren. Das würde unweigerlich zu steigenden Handels- und Finanzströmen führen und die regionale Wirtschaft stärken. Die Schaffung regionaler Kompetenzzentren würde die finanzwirtschaftliche Stellung der EU im Vergleich zu den anderen großen Wirtschaftsmächten verbessern. Weltweit gibt es viele Bedenken hinsichtlich der Fragmentierung der Finanzmärkte insgesamt. Es mutet deshalb seltsam an, dass die EU mit den gleichen Problemen konfrontiert ist – obwohl der Kontinent eine Währung besitzt, einen einheitlichen Binnenmarkt und eine EU-weite Aufsicht. Diese Fragmentierung zu überwinden, ist für Banken, die in ganz Europa vertreten sind, ein besonderes Anliegen.Deshalb sollten die EU-Kommission, die Regulierungsbehörden der europäischen Länder und die Zentralbanken zusammenarbeiten, um zu guter Politik zu ermuntern. Sie alle sollten lokale Kapitalmarktinitiativen in der Art unterstützen, dass die regionalen Bemühungen zusammengeführt und, wo nötig, skaliert werden. Entscheidend ist hierbei der Dialog unter den europäischen Finanzplätzen, wie das jeweilige Angebot der Kapitalmärkte verbessert werden kann und wie die jeweiligen Spezialisierungen noch besser länderübergreifend genutzt werden können.Gleichzeitig könnte die Europäische Kommission durch die Vervollständigung der Bankenunion grenzüberschreitenden Bankkrediten zum Durchbruch verhelfen. Doch das Unterfangen ist anspruchsvoll und erfordert die Einigung auf eine Art Einlagen-Backstop-System sowie eine Vielzahl weiterer Fragen. Allerdings ist die Bankenunion von entscheidender Bedeutung, da sie die Finanzstabilität innerhalb der Union endlich auf eine viel breitere Grundlage stellen wird. Risiken eingehenDie Privatwirtschaft spielt bei der Finanzreform ebenso eine Rolle. Auch wenn es für einen Banker eine eigenwillige Position sein mag, aber die europäischen Finanzmärkte fokussieren sich schon zu lange und zu sehr auf Fremdkapital. Die Emission von Schuldtiteln ist nicht für jede Refinanzierungssituation und für jeden Marktteilnehmer geeignet. Um dieser Herausforderung zu begegnen, ist eine fortschrittliche Aktienkultur in Europa erforderlich. Andernfalls wird die Kapitalmarktunion immer mit angezogener Handbremse fahren. Europa muss weiterhin Wachstum schaffen und Innovationen fördern. Das bedeutet auch, Risiken einzugehen. Investoren sollten vor dem Aktienrisiko nicht zurückschrecken, und Unternehmer sollten ebenso bereit sein, dies anzubieten. Da die EU bestrebt ist, die globalen Bemühungen um den Übergang zu einer CO2-neutralen Wirtschaft anzuführen, sollte eine größere Rolle für Aktieninvestments mehr Mittel für nachhaltige Projekte in der Privatwirtschaft freisetzen.Dies ist ein langfristiges Ziel, aber die Arbeit daran kann jetzt beginnen. Denn die Mittel, um zur Kapitalmarktunion zu gelangen, stehen der EU bereits zur Verfügung. Wenn eine neue Führungsmannschaft antritt, besteht oftmals die Versuchung, besonders groß zu denken und mutig zu handeln. Mit Blick auf die wichtigsten Finanzthemen muss die EU lediglich das, was sie schon hat, besser machen. Geduldig optimieren, statt tiefgreifend verändern – das brächte den größten Ertrag. James Emmett, Chief Executive HSBC Bank und Chief Executive of Europe