„Der soziale Kitt kann bröckeln“
Von Thomas List, Wiesbaden
Viele Unternehmen haben sich schon lange mit neuen Arbeitsplatzkonzepten beschäftigt. Die Pandemie hat aber zweifellos sowohl die Konkretisierung dieser Überlegungen als auch deren Umsetzung deutlich beschleunigt. Immerhin mussten die Unternehmen ihre Bürobeschäftigten im März 2020 praktisch von einem Tag auf den anderen ins Homeoffice schicken, unabhängig davon, wie sie darauf vorbereitet waren.
Kreativität in der Teeküche
Bei der R+V Versicherung haben die guten Erfahrungen, die das Unternehmen mit dem coronabedingten Homeoffice gesammelt hat, im Vorstand zu dem Entschluss geführt, dauerhaft ein neues, flexibles Arbeitsmodell zu schaffen. „Unsere Kunden und Vertriebspartner haben gar nicht gemerkt, dass die gesamte R+V-Organisation ins Homeoffice gegangen ist“, sagte Karim Ben Sliman, der bei der R+V das Programm „New Normal“ verantwortet, im Gespräch mit der Börsen-Zeitung. Eine hohe Akzeptanz der Mitarbeitenden für die Arbeit von zu Hause habe sich bereits positiv auf ihr Engagement ausgewirkt. „Allerdings zeigte sich auch, dass der soziale Kitt etwas bröckelig wird, je länger diese Phase uneingeschränkter Arbeit von außerhalb der Büros dauert. Spontaner Austausch, Teeküchen-Kreativität – sowas fällt einfach weg.“ Es gebe nur noch „bewusst gestartete Kommunikation“. Außerdem fielen das Netzwerken und die Integration neuer Mitarbeiter schwerer.
In einer so großen Organisation wie der R+V gibt es viele Aufgabenfelder und Schnittstellen. Damit war schnell klar: Das neue Organisationsmodell muss flexibel sein. „Dieses Modell haben wir jetzt erarbeitet und in einer ersten Stufe umgesetzt.“ Seit 1. Oktober arbeiten rund 10000 Innendienst-Mitarbeiter in zwei verschiedenen Arbeitszeitmodellen – entweder zu 100% im Büro oder, und dieses Modell wählten 95% der Beschäftigten, zwei bis drei Tage pro Woche im Büro und den Rest zu Hause. Jetzt legen die Teams in Workshops fest, wie viel Präsenz für welche Aufgaben erforderlich ist. „Dabei geht es um Fragen wie: Müssen wir einen bestimmten Tag festlegen, an dem alle Mitglieder eines Teams im Büro sind? Brauchen wir spezielle Meetingformen? Oder laufen wir uns zufällig über den Weg?“
Einige Teams haben einen Tag für Meetings mit bestimmten Themen festgelegt und stellen es den Teammitgliedern frei, darüber hinaus noch ein oder zwei Tage ins Büro zu kommen. Andere Teams – gerade im agilen Projektumfeld – werden häufig Phasen haben, die eng getaktete Termine in Präsenz erfordern, die dann wieder von Phasen mit wenig Präsenz abgelöst werden.
Die Organisation orientiert sich aber auch an Schnittstellen. Bei Projekten ergibt sich die Präsenz aus der Zusammenarbeit mit anderen Teams. Klar ist für Ben Sliman: Damit die neue Arbeitswelt funktioniert, muss man sich stärker abstimmen – innerhalb des Teams und außerhalb. Aber es gilt eben auch: „Das flexible Arbeiten macht uns das Leben leichter.“ Das hat Ben Sliman auch selbst gemerkt: „Ich hatte morgens einen relativ stressigen Anreiseweg. Nach einer aufregenden Zeit im Auto habe ich früher erst mal fünf Minuten gebraucht, bis mein Puls wieder normal war. Das fällt jetzt weg.“
„Free Seating“ einführen
Die neuen Arbeitsformen haben aber auch Auswirkungen auf die Flächen. „Sie sollen den Austausch ermöglichen, konkret flexibel gestaltbar sein, aber auch gleichzeitig Rückzugsmöglichkeiten bieten, um konzentriert arbeiten zu können.“ Ungestört zu telefonieren soll auch zukünftig möglich sein. Die flächendeckende Einführung von Großraumbüros kam für die R+V nicht in Frage. „Von Zweierbüros bis offenen Workspaces wird es alles geben.“ Der Versicherer wird nach und nach die freie Platzwahl, neudeutsch Free Seating einführen. Feste Arbeitsplätze wird es also nicht mehr geben – aber „Heimathäfen“ mit Flächen für spezifische Organisationseinheiten. „Die werden offen gestaltet, so dass man cross-funktional über Silogrenzen hinaus zusammenarbeiten kann und immer den richtigen Platz für die Aufgaben des jeweiligen Tages findet.“ Dazu gehört dann die jeweils passende Medientechnik.
Warum der Abschied vom festen Arbeitsplatz in der neuen Arbeitswelt zwingend sei, macht Ben Sliman an einem Beispiel deutlich. „Denken Sie an einen Flur mit Zweierbüros, in denen bisher 100 Mitarbeitende sitzen. Zukünftig werden es an einem beliebigen Tag viel weniger sein. Wenn der eine Mitarbeiter in seinem Büro am Anfang des Flurs sitzt und der andere am Ende, dann ist der Austausch schwierig und beide könnten eigentlich auch zu Hause bleiben.“ Es sei daher besser, wenn sich die Beschäftigten im Büro für die Zusammenarbeit Plätze in der Nähe suchten.
Bei offenen Flächen ist das einfacher, sprich es wird in Zukunft bei der R+V weniger Einzel- und Zweierbüros geben. Free Seating bedeutet aber auch: „Der Schreibtisch muss abends so verlassen werden, dass dort am nächsten Morgen jemand anderes sitzen kann. Das Blümchen wäre noch okay.“
Die R+V habe das neue Arbeitsplatzkonzept von Beginn an unter Einbezug der Mitarbeitenden und der Betriebsräte entwickelt. „Wir haben sogenannte Design-Werkstätten ins Leben gerufen, bei denen wir Mitarbeitende von Anfang an in die Konzeptionsphase mit einbezogen haben.“ Die mehr als 800 Mitarbeitenden wurden aufgrund von typischen, auf möglichst viele andere übertragbaren Arbeitsweisen ausgewählt und konnten das neue Arbeiten auf Probeflächen auch gleich selbst ausprobieren. „Das Free Seating stieß in dieser Probephase auf hohe Akzeptanz. Das gilt unabhängig vom Alter“, stellt Ben Sliman zufrieden fest. Es wird sukzessive im kommenden Jahr in der Breite ausgerollt. Die neuen Arbeitsflächen kommen nach und nach dazu. Ebenfalls 2022 wird das seit 1. Oktober geltende Arbeitszeitschema um zwei Varianten erweitert, bei denen abhängig von den jeweiligen Aufgaben von einem bis zu vier Tagen von zu Hause aus gearbeitet werden kann.
Bei der Frage, ob die R+V zukünftig weniger Büroflächen brauchen wird, zeigte sich Ben Sliman zurückhaltend. „Wir werden sie anders nutzen, aber der Platzbedarf wird nicht unbedingt geringer.“ Es gelte aber auch, Flächen optimal auszulasten. „Wenn die Modelle gut angenommen werden, kann es gut sein, dass dann auch der Flächenbedarf abnimmt, weil nicht mehr so viele Mitarbeitende gleichzeitig vor Ort sind. Das ist aber nicht unser originäres Ziel“, betonte er.
Flexibilität erwartet
Flexible Arbeitsmodelle werden auch bei der Mitarbeitergewinnung immer wichtiger. Die Erfahrung hat auch Ben Sliman in seiner Funktion als Niederlassungsleiter Stuttgart der R+V Versicherung gemacht. „Bewerber stellen praktisch immer die Frage, wie sich R+V zum Homeoffice stellt.“ Das gelte ganz besonders für junge Bewerber. „Zwischen den Zeilen hört man heraus, dass diese Flexibilität erwartet wird. Es gehört heute zum Gesamtpaket eines attraktiven Arbeitgebers einfach dazu, sich mit solchen Fragen auseinanderzusetzen.“
Wertberichtigt Seite 6