Der Weg in eine kohlenstoffneutrale Zeit ist noch lang

Auf Kohleverstromung und Aktienkurse deutscher Energieversorger in den letzten Jahren schauen - ihr Schicksal könnte auch anderen Branchen drohen

Der Weg in eine kohlenstoffneutrale Zeit ist noch lang

Es wird ernst mit dem Kohleausstieg, die sogenannte Kohlekommission hat endlich einen Fahrplan dafür entwickelt. Eine ihrer zentralen Empfehlungen: Bis 2022 die ersten gut 25 % der verbliebenen Kohleverstromungskapazität – also 13 von derzeit noch 43 Gigawatt (GW) – vom Netz zu nehmen, weitere 13 GW dann bis 2030 und die verbleibenden 17 GW schließlich bis 2038.Vielen Kritikern kommt die Ankündigung, Deutschland werde bis 2038 den Betrieb all seiner Kohlekraftwerke einstellen, zu spät. Ihnen vollzieht sich die Energiewende noch viel zu langsam, gerade im Hinblick auf die Temperaturziele des Pariser Klima-schutzabkommens. Rechtzeitig umschichtenDoch während vor allem politische Entscheidungsträger beim Thema Klimarisiken ausschließlich auf das Tempo des Systemwandels blicken, sollten Anleger kurz in den Rückspiegel schauen, denn Deutschlands langer Weg hin zu einer kohlenstoffneutralen Zukunft hält umfassende Erkenntnisse für Investoren bereit. Was nämlich für die Kohleverstromung und die Aktienkurse der deutschen Energieversorger galt, könnte künftig auch anderen Branchen drohen. Risikobewusste Anleger nehmen das zum Anlass, rechtzeitig umzuschichten.Insbesondere der Öl- und Gassektor sowie die Automobilbranche sind zunehmend den gleichen disruptiven Veränderungen ausgesetzt, mit denen in den vergangenen zehn Jahren schon die deutschen Versorger konfrontiert waren. Deren Kurse lassen erkennen, wie die weitere Entwicklung aussehen könnte. Hintergrund: Ausschlaggebend für die Aktienbewertungen ist nicht, welche Energiequellen die Gesamtnachfrage dominieren, sondern welche das Nachfragewachstum bestimmen.So wuchs der deutsche Energiemarkt in den Jahren 2002 bis 2008 um rund 10 %, die Gesamtleistung stieg in diesem Zeitraum von 503 auf 553 Terawattstunden (TWh). Die Nachfrage nach Strom aus konventioneller Erzeugung hingegen erlebte ihren Zenit mit 480 TWh bereits 2006. Bezogen rein auf Strom aus fossilen Energieträgern im Allgemeinen oder auch die Kohleverstromung im Besonderen zeichneten sich die entsprechenden Spitzen mit 315 TWh beziehungsweise 258 TWh im Jahr 2007 ab. Mit 553 TWh war der Höhepunkt der Gesamtnachfrage nur ein Jahr später erreicht. Erneuerbare als GewinnerDas bedeutet, dass die erneuerbaren Energien das Nachfragewachstum im Zeitraum 2002 bis 2008 fast vollständig für sich vereinnahmen konnten. Tatsächlich gehen 47 TWh der insgesamt 50 TWh, um die die Nachfrage in diesen sechs Jahren gestiegen ist, auf das Konto der Erneuerbaren, während die Konventionellen einen Anstieg um gerade einmal 3 TWh verbuchen konnten. Anders ausgedrückt: Seit Beginn des Aufstiegs der erneuerbaren Energien ist der Marktanteil der konventionellen Energien ebenso deutlich zurückgegangen.Und da die erneuerbaren Energien zudem kurzfristige Grenzkosten von null aufweisen, haben sie nicht nur den etablierten Energieträgern Marktanteile abgenommen, sondern im Laufe der Jahre auch einen Rückgang der Energiepreise bewirkt. Konventionelle Energieerzeuger bekommen folglich doppelt Druck: geringere Absatzvolumina bei gleichzeitig sinkenden Preisen.Der springende Punkt ist jedoch: Die Erneuerbaren waren damals erst knapp aus den Startlöchern herausgekommen. Im Jahr 2006, zum Höhepunkt der Nachfrage nach Strom aus konventionellen Quellen, lag ihr Anteil am Gesamtbedarf bei gerade einmal 12 %. Als die Nachfrage nach Strom aus fossilen Energieträgern 2007 auf dem höchsten Stand war, machten die erneuerbaren Energien lediglich 15 % aus, und 2008 – der Strombedarf insgesamt war so hoch wie nie – waren es nicht mehr als 16 % für die Erneuerbaren.Doch in einem reifen Energiemarkt, in dem ein neues, preisgünstiges Segment wie die erneuerbaren Energien rasant an Bedeutung gewinnt, reagieren die entsprechen-den Aktien stärker auf den Rückgang des Marktanteils der fossilen Brennstoffe, als dieser sich tatsächlich vollzieht. So erklärt sich auch, dass die deutschen Energieriesen seit 2008 enorm an Wert eingebüßt haben. Die Eon-Aktie beispielsweise kostete am 18. Januar 2008 noch 48,60 Euro. Im Juni 2019 stand sie bei 9,93 Euro. Eine Lehre für AnlegerAktienbewertungen basieren auf erwarteten Zahlungsströmen, und im Falle der Energieunternehmen hängen diese künftigen Zahlungsströme von den Erwartungen des Marktes im Hinblick auf die künftig zu erzielenden Absatzmengen und Preise ab. Am deutschen Energiemarkt verfügten Eon und RWE, die beiden größten etablierten Energieerzeuger, bis 2008 nur über einen diversifizierten Mix konventioneller Kraftwerke mit Schwerpunkt auf fossilen Brennstoffen und Atomstrom.Die Aktien von RWE und Eon sanken in den zehn Jahren seit dem Hoch 2008 um fast 80 %. Es ist also ratsam, die erneuerbaren Energien im Auge zu behalten – und gerade ihren Anteil am Wachstum des globalen Energiebedarfs. Wie sich gezeigt hat, begann der Kapitalmarkt bereits unmittelbar nach dem Allzeithoch der konventionellen Stromerzeugung in Deutschland, ihr Ende einzupreisen – obgleich ihr Marktanteil zum damaligen Zeitpunkt noch bei über 80 % lag.Das Nachfragewachstum kann Anlegern auch in anderen Branchen als Richtgröße und Frühindikator dienen – etwa für die Mineralölunternehmen. Wie damals bei den Versorgern wäre es zum Beispiel für die Aktionäre der Ölgroßkonzerne ähnlich schmerzhaft, wenn der Anteil von Öl und Gas am globalen Energiemix im Jahr 2030 noch bei über 50 % liegt, die Nachfrage aber schon zuvor ihren Höhepunkt erreicht hat: Die Preise würden aufgrund des anhaltend schnellen Wachstums der kostengünstigen erneuerbaren Energien fallen und die Aktienkurse nachgeben. Anfang ist gemachtDer Anfang ist bereits gemacht: 2017 – als die fossilen Brennstoffe noch 85 % des gesamten Energiebedarfs ausmachten und die erneuerbaren Energien es auf gerade einmal 3,6 % brachten – entfielen auf Letztere dennoch bereits 30 % des Mehrbedarfs an Energie. In Zahlen: Die Erneuerbaren stellten bereits 69 Mill. Tonnen Öläquivalent von insgesamt 252 Mill. Tonnen Mehrenergiebedarf.Auch 2018 konnten sie, mit 71 Mill. Tonnen Öläquivalent, dieses Niveau halten, wie der aktuelle World Energy Report von BP belegt. Demnach stieg der globale Energieverbrauch 2018 um 2,9 % – dies ist der stärkste Anstieg seit 2010 und gegenüber dem Zehn-Jahres-Durchschnitt fast eine Verdoppelung. Entsprechend gefragt waren bestimmte Energiequellen: Besonders stark war das Wachstum bei Gas, das mit 168 Mill. Tonnen Öläquivalent 43 % des globalen Wachstums ausmacht, und bei den erneuerbaren Energien, die derzeit 18 % des Mehrbedarfs decken.Sobald die Erneuerbaren 100 % des Wachstums auf sich vereinen, hat die Nachfrage nach Öl und Gas ihren Zenit überschritten. Möglich, dass es den Aktienkursen im Öl- und Gassektor und in der Automobilbranche dann ähnlich ergeht wie den deutschen Energieversorgern damals. Mark Lewis, Head of Climate Change Investment Research bei BNP Paribas Asset Management