LEITARTIKEL

Des Herrn Kaiser zweiter Tod

Vier Jahrzehnte lang hatte die Werbeikone "Herr Kaiser" das deutsche Fernsehen mitgeprägt. Als Vertreter der früheren Ergo-Tochter Hamburg-Mannheimer stand er für eine Zunft, die heute vom Aussterben bedroht ist. 2009 verschwand er von der...

Des Herrn Kaiser zweiter Tod

Vier Jahrzehnte lang hatte die Werbeikone “Herr Kaiser” das deutsche Fernsehen mitgeprägt. Als Vertreter der früheren Ergo-Tochter Hamburg-Mannheimer stand er für eine Zunft, die heute vom Aussterben bedroht ist. 2009 verschwand er von der TV-Bildfläche. Acht Jahre danach zeichnet sich nun sein zweiter, sein endgültiger Tod ab: der tiefgreifende Wandel, den die Assekuranz durchmacht. Die Digitalisierung wirbelt die Versicherungsbranche durcheinander und gefährdet alte Berufsbilder.In diesem Prozess sind die Versicherer jedoch nur Nachzügler. Manch einer unkt, dass sie auf diesem Feld gegenüber Banken um mehrere Jahre zurückliegen, obwohl sich die Assekuranz die modernen Informations- und Kommunikationssysteme auf ihre Fahnen geschrieben hat. Während die Kreditwirtschaft längst mit ausgefeiltem Online-Banking, einer Vielzahl von Direktbanken und Apps um die Kunden buhlen, stellen sich Versicherer viel langsamer auf den neuen Zeitgeist ein. Der konservativen Branche dämmert aber allmählich, welche Folgen die Digitalisierung für sie hat. Der technologische Wandel stellt ihr Geschäftsmodell auf den Kopf, wenn man bedenkt, dass die Unternehmen bislang nur einen Bruchteil der Möglichkeiten der Digitalisierung nutzen.Die Verlierer zeichnen sich ab: Das Heer der Versicherungsvertreter. Sie spielen künftig nur noch eine untergeordnete Rolle, wenn der Verkauf von Versicherungspolicen und die Betreuung der Kunden großteils über das Internet, Smartphones und soziale Medien erfolgt. Für Herrn Kaiser ist in dieser Vertriebskultur kein Platz mehr. Die Hundertschaften von Versicherungsagenturen und -maklern haben auf lange Sicht ausgedient. Ihre Aufgabe reduziert sich auf die Beratung bei komplexeren Produkten.In der Branche herrscht jedoch eine Diskrepanz zwischen objektiver Wahrheit und subjektiver Wahrnehmung. Der Berg an Aufgaben, den die Versicherer zu bewältigen haben, um den Rückstand aufzuholen, ist hoch. Die Restrukturierungsanstrengungen von Ergo und Allianz sind nur ein Zwischenschritt. Weitere Einschnitte in der Branche werden folgen, mit schmerzlichen Auswirkungen für die betroffenen Beschäftigten. Viele werden ihre Arbeitsplätze verlieren oder sich in den Konzernen umorientieren müssen, um nicht wegrationalisiert zu werden. Das, was die Banken – Stichwort Filialsterben – längst durchmachen, steht den Versicherern erst noch bevor. Doch so manche wollen es nicht wahrhaben, dass ihre bisher wohlgeordnete Welt zusammenbricht. Sie träumen davon, dass die früher bewährten, aber heute längst verkrusteten Konzernstrukturen erhalten bleiben. Das ist ein Trugschluss.Die Beharrungskräfte sind stark. In guten Zeiten bauten die Unternehmen umfangreiche Verwaltungsapparate auf, die den Erfordernissen der neuen, vernetzten Arbeitswelt allerdings nicht mehr gerecht werden. Als Beschleuniger dieses Umbruchs agiert unfreiwillig die Europäische Zentralbank. Das Zinstief als Folge der Notenbankpolitik lässt die Margen der Versicherer in Westeuropa erodieren. Ihre Kapitalanlageerträge schrumpfen. Das legt ihre strukturellen Schwächen offen. Vor allem auf Rendite getrimmte börsennotierte Anbieter geraten unter dem Blick von Investoren unter Anpassungsdruck. Gestalten sie ihre Prozesse mit Hilfe moderner Kommunikationstechnologien nicht effizienter, geraten sie ins Hintertreffen und verlieren Marktanteile.Die notwendige Verschlankung von Strukturen infolge der Digitalisierung führt dazu, dass Verbraucher und Großkunden für Versicherungspolicen künftig tendenziell weniger Beiträge berappen müssen. Der Preisverfall hat für die Konsumenten aber auch eine Kehrseite. Der bisherige Kollektivgedanke in der Branche wird schrittweise untergraben, da digitalisierte Vertriebswege die Individualisierung von Versicherungsverträgen fördern. Das Motto “Geiz ist geil” wird hier voll ausgereizt. Wenn ausschließlich Algorithmen auf Basis einer Fülle von Daten (Big Data) darüber entscheiden, wer und was versicherbar ist und wer und was nicht, wirkt dieses Verfahren allerdings diskriminierend und tangiert ethische Aspekte. Da die Versicherer überwiegend transnational agieren, wird es ihnen schwerfallen, sich auf verbindliche Selbstverpflichtungen zu einigen über die Grenzen, ab denen ihr Geschäftsgebaren gegen gesellschaftliche Grundwerte verstößt. Folglich wäre Vater Staat gefordert, die Normen vorzugeben, um zu verhindern, dass die negativen Seiten der Digitalisierung in der Assekuranz überwiegen.——–Von Stefan KroneckDie Digitalisierung legt die Schwächen der Versicherer offen. Die Branche muss ihre verkrusteten Strukturen beseitigen, um künftig Schritt zu halten.——-