Deutschland, der heimliche Gewinner der Nullzinsen
Kein Tag vergeht in Deutschland, an dem nicht über die Nullzinsen geschimpft wird. Neben der Entstehung von Finanzmarktblasen und Zombie-Unternehmen wird in diesem Kontext vor allem auf eine wachsende Ungleichheit und eine in Zukunft steigende Altersarmut verwiesen. Diese Entwicklungen sind geeignet, das Vertrauen in unsere marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung (weiter) zu untergraben. Langfristige GefahrenOhne Frage ist es wichtig, auf die langfristigen Gefahren von Nullzinsen hinzuweisen. Noch wichtiger wäre es aber, darüber nachzudenken, wie diese Gefahren eingedämmt werden können, insbesondere der schleichende Vertrauensverlust. Es ist höchste Zeit, dass die Politik ihren Spielraum für wirksame Gegenmaßnahmen ausschöpft. Dazu ist es aber zuerst erforderlich, zu verstehen, welche Wirkungen die Nullzinsen bisher gehabt haben. Schauen wir also auf die Fakten, das heißt auf die unmittelbare Wirkung der bisherigen Zinsentwicklung.Im Nettozinseinkommen (empfangene abzüglich geleisteter Zinszahlungen) ist die Zinsentwicklung für jeden einzelnen direkt spürbar. Wir haben daher das Nettozinseinkommen für Staat und private Haushalte sowie finanzielle und nichtfinanzielle Unternehmen für die wichtigsten Euro-Länder berechnet. Jenseits der häufig vorgebrachten Stereotype – deutsche Sparer werden “enteignet”, der Süden ist der große Gewinner – zeigen diese Berechnungen ein sehr viel differenzierteres Bild: die Entwicklung der Nettozinseinkommen variiert stark von Sektor zu Sektor und von Land zu Land. Dies wird insbesondere deutlich, wenn die jährlichen Veränderungen gegenüber 2008 – dem Jahr, in dem der gegenwärtige Zinssenkungszyklus der EZB seinen Anfang nahm – kumuliert werden.Um es vorwegzunehmen: Deutschland ist in dieser Betrachtung ein Gewinner der Nullzinsen! Denn nirgendwo sonst hat der Staat stärker vom Zinsverfall profitiert. Seit 2008 (bis einschließlich 2018) summierten sich die Verbesserungen im Nettozinseinkommen auf 184 Mrd. Euro. Damit wurden die Verluste, die die privaten Haushalte in dieser Zeit erlitten hatten (123 Mrd. Euro), mehr als wettgemacht. Ebenso überstiegen auch die Zinsgewinne der Unternehmen (166 Mrd. Euro) die Rückgänge im Nettozinseinkommen der Banken (114 Mrd. Euro).Generell entspricht die Liste der Gewinner und Verlierer nicht unbedingt den Erwartungen. Zwar profitierten Portugal (19 Mrd. Euro) und insbesondere Spanien (181 Mrd. Euro) stark von den Nullzinsen – aber zum Beispiel auch die Niederlande (87 Mrd. Euro). Dies liegt vor allem an den niederländischen Banken, denen es gelungen ist, gegen den allgemeinen Trend ihr Kreditgeschäft auszubauen und so ihr Nettozinseinkommen zu verbessern. Alle anderen Banken mussten dagegen eine Verschlechterung ihres Nettozinseinkommens hinnehmen; eine schwache Kreditnachfrage und eine sinkende Zinsmarge waren dafür verantwortlich.Besonders stark waren davon die finnischen und französischen Banken betroffen. Ihre Verluste führten sogar dazu, dass diese beiden Länder unterm Strich als “Nullzinsverlierer” dastehen: In Finnland kumulierten sich die Einbußen netto auf 13 Mrd. Euro und in Frankreich auf 63 Mrd. Euro. Die Liste der Verlierer wird komplettiert von Österreich (2 Mrd. Euro) und Belgien (15 Mrd. Euro). In beiden Ländern geht dies in erster Linie auf die hohen Verluste der privaten Haushalte zurück, wo die Sparer relativ noch mehr gebeutelt wurden als in Deutschland.Die größten Verlierer unter den Sparern waren aber die Italiener: Ihre Zinsverluste erreichten 241 Mrd. Euro. Getrieben wurde dies vor allem durch die Halbierung des traditionell großen Anleihenportfolios der italienischen Sparer, die daher auch als einzige Ende 2018 über weniger zinstragende Assets als zu Beginn der Krise verfügten. Dennoch übersteigen diese Forderungen der privaten Haushalte ihre Verbindlichkeiten noch immer um mehr als das Doppelte – auch dies ein Rekordwert unter den betrachteten Euro-Ländern. Staat und Unternehmen in Italien mögen ein Schuldenproblem haben – weswegen sie auch zu den Gewinnern der Nullzinsen zählen und Italien als Ganzes von den Nullzinsen profitieren konnte (99 Mrd. Euro) -, die privaten Haushalte jenseits der Alpen haben definitiv keins. Verlierer und GewinnerDieser nur kursorische Überblick über die Ergebnisse unserer Berechnungen zum Nettozinseinkommen zeigt deutlich: Nullzinsen haben Verteilungswirkungen – die aber keineswegs gleichgerichtet sind. So gehören nicht alle Sparer zu den Verlierern oder alle Staaten zu den Gewinnern. Denn neben den Zinsen entscheidet eigenes Zutun wesentlich über die Entwicklung des Nettozinseinkommens: Schuldenabbau oder -aufbau, Umschichtung von Assets oder erhöhte Sparanstrengungen können die Wirkung von Nullzinsen verstärken oder abmildern.Und für die Verteilungswirkungen gilt: Sie lassen sich korrigieren. Denn gerade in den Ländern, in denen die privaten Haushalte stark belastet werden (Deutschland, Italien oder Belgien), zählt der Staat zu den Nutznießern der Nullzinsen. Was spricht also dagegen, die Zinsersparnisse des Staates an die betroffenen Bürger weiterzugeben, beispielsweise in Form höherer Sparerfreibeträge und von Zuschüssen zur Altersvorsorge?Ähnliches ist mit den Einnahmen der neuen CO2-Steuer geplant, um die Akzeptanz der Klimapolitik zu erhöhen. Statt nur auf die Nullzinsen zu schimpfen, trügen solche Maßnahmen dazu bei, die Verteilungswirkungen zu begrenzen. Vielleicht machen dann auch die deutschen Sparer ihren Frieden mit den Nullzinsen. Denn so wie die Maßnahmen gegen den Klimawandel die Politik auf Jahre prägen werden, dürften uns auch die Nullzinsen – oder sehr niedrige Zinsen – noch für eine lange Zeit begleiten. Ludovic Subran ist Chefvolkswirt der Allianz SE. In dieser Rubrik veröffentlichen wir Kommentare von führenden Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus Politik und Wissenschaft. Von Ludovic SubranDer Staat als Profiteur der Niedrigzinsen sollte seine Zinsersparnisse an die vom Nullzins betroffenen Bürger weitergeben.—