Die Abgabenordnung und das Börsengesetz: ein ungleiches Paar
Die Abgabenordnung (AO) ist das Grundgesetz des Steuerwesens in Deutschland. Jeder Bürger und jedes Unternehmen ist davon betroffen. In der AO ist kodifiziert, wie etwa Besteuerungsgrundlagen ermittelt, wie Steuern festgesetzt, erhoben und Steuerschulden vollstreckt werden. Von der Wiege bis zur Bahre regelt die AO alle grundlegenden steuerlichen Sachverhalte mit unmittelbarer Auswirkung auf jedes Mitglied eines Gemeinwesens.
Das deutsche Börsengesetz (BörsG) liefert dagegen den spezialgesetzlichen regulatorischen Rahmen für die Organisation und die Tätigkeit einer Börse, also einer regulierten Plattform für das Zusammenbringen von Angebot und Nachfrage von Finanzprodukten der unterschiedlichsten Art. Vermeintlich also ein Gesetzeswerk ohne erheblichen unmittelbaren Einfluss auf den einzelnen Bürger – anders eben als die AO.
Teufel steckt im Detail
Aber der Teufel steckt im Detail.
Wie ausgeführt, ist die Abgabenordnung in ihrer Gesamtheit der gesetzgeberische Ausdruck, wie Bürger ihren Beitrag zur Aufrechterhaltung und Finanzierung des Gemeinwohls zu leisten haben. Dies hat unter Einhaltung größtmöglicher Steuergerechtigkeit zu erfolgen. Gleichzeitig sind Missbräuche bei der Gestaltung von steuerlich relevanten Sachverhalten oder Steuerverkürzung oder Steuerhinterziehung zulasten des Gemeinwohls aufzudecken und zu verfolgen.
Ein Katalog von Vorschriften
Die AO enthält auch dazu einen Katalog von Vorschriften unterschiedlicher Art, die letztendlich diese Steuergerechtigkeit herstellen sollen und relevante Missbräuche aufdecken und sanktionierbar machen, so etwa die Vorschriften zur Steuerhinterziehung (§370 AO) oder der Steuerverkürzung (§378 AO).
Gleichzeitig sind Gerichte und die Behörden von Bund, Ländern und kommunalen Trägern der öffentlichen Verwaltung, die nicht Finanzbehörden sind, verpflichtet, (aktiv) Tatsachen, die sie dienstlich erfahren und die auf eine Steuerstraftat schließen lassen, dem Bundeszentralamt für Steuern oder, soweit bekannt, den für das Steuerstrafverfahren zuständigen Finanzbehörden mitzuteilen (§116 Abs.1 AO).
Und jetzt kommen wir zum entscheidenden Punkt: Diese aktive Mitteilungsverpflichtung gilt nach §10 Abs. 3 BörsG nicht für die öffentlich-rechtlichen Organe und deren Vertreter von Börsen, für die Börsenaufsichtsbehörden der Bundesländer (Börsenaufsicht ist Ländersache und noch nicht Aufgabe der BaFin) sowie Beschäftigte bei den Börsen und deren Trägergesellschaften.
Im Zeichen von Cum-ex und anderer, der Steuervermeidung dienender Szenarien, bei denen die Börsen, deren Systeme und Abwicklungsunternehmen zumindest in Teilen „benutzt“ wurden, ist dies ein unhaltbarer Zustand und dem ehrlichen Steuerbürger nicht zu vermitteln.
So obliegt etwa der Börsentochter Clearstream die zentrale Verwaltung und Verwahrung von Wertpapiergeschäften bzw. Wertpapieren. Zu ihren wichtigsten Aufgaben zählt insbesondere die Abwicklung der an der Börse oder über deren Systeme getätigten Geschäfte in Aktien und anderen Wertpapieren. Aussagen vor dem Landgericht Bonn im ersten strafrechtlichen Prozess zu Cum-ex belasteten Clearstream. Profitierte Clearstream indirekt von den CumEx-Geschäften? War man sich dessen im Unternehmen bewusst? So soll es Indizien dafür geben, dass Mitarbeiter von Clearstream technisch in der Lage gewesen sein könnten, Leerverkäufe, die auf Cum-ex-Geschäfte hinweisen, zu identifizieren. Zudem werden einige Clearstream-Mitarbeiter verdächtigt, Banken bei den Deals geholfen zu haben.
BaFin steht in der Kritik
Seit Cum-ex, P&R, Wirecard und nun auch Greensill steht die deutsche Finanzmarktaufsichtsstruktur, allen voran die BaFin, in der Kritik. Es wurde jeweils zaghaft vorgegangen und immer wieder auf mangelnde Kompetenzen oder Zuständigkeiten verwiesen.
Seit dem Zusammenbruch von Wirecard gibt es auf Seiten des Gesetzgebers endlich etwas Bewegung. Während einzelne Vorschläge in die richtige Richtung gehen, wird erneut eine Chance verpasst, grundsätzlich aufzuräumen. Dies gilt auch bezüglich der Ausnahme der Mitteilungsverpflichtung für die öffentlich-rechtlichen Organe. Es wäre dringend geboten, § 10 Abs. 3 BörsG zu streichen.
Als Begründung für diesen gesetzlichen Missstand wird oft angeführt, dass die Börsen und die Börsenaufsichtsbehörden im erheblichen Umfang auf eine kooperative Zusammenarbeit mit den Handelsteilnehmern (Banken und Finanzdienstleistungsunternehmen) und den Emittenten angewiesen seien. Es solle verhindert werden, dass deren Kooperationsbereitschaft nur deshalb leide, weil sie befürchten müssen, dass die Finanzbehörden hieraus resultierende Informationen erhielten.
Das öffentliche Interesse an einer gerechten Besteuerung wird dieser Argumentation folgend gegenüber dem Streben nach einer vermeintlichen effektiven Börsenaufsicht aufgegeben.
Ein absurder Zustand
Ein absurder Zustand. Denn wer, wenn nicht die Börse und ihre Experten, die sich täglich die Handelsgeschäfte anschauen, sollten sich gemeinsam mit der Börsenaufsichtsbehörde für eine Befolgung der steuerlichen Normen im Rahmen des Börsenhandels einsetzen?
Finanzwende fordert deshalb, den Abschnitt § 10 Abs. 3 BörsG zu streichen, um eine aktive Verfolgung von Steuerhinterziehung auch auf diesem Gebiet zu ermöglichen.