Die Filiale im digitalen Wandel
Von Carsten Steevens, HamburgWie viele der noch gut 36 000 Bankfilialen in Deutschland wird es 2030 geben? 30 000? 20 000? Seriös lässt sich eine Zahl nicht prognostizieren. Doch die digitale Revolution, die das Bankgeschäft weltweit erfasst hat, lässt Raum für Fantasie. Und sie sorgt für Verunsicherung.Die zunehmende Verbreitung schneller Internetverbindungen, mobiler Endgeräte wie Smartphones und Tablets, die Etablierung von Banking-Apps, die Kennung bzw. Log-in per Fingerabdruck ermöglichen und die Sicherheit mobiler Finanztransaktionen erhöhen, Angebote der Kundenberatung über Videokonferenzen, aber auch das Vordringen neuer Konkurrenten aus dem Internet, der sogenannten Fintechs, lassen die Vermutung zu, dass sich das Filialsterben in den nächsten Jahren noch beschleunigen könnte. In den vergangenen zwei Dekaden hat sich die Zahl der Bankstellen in Deutschland Erhebungen zufolge fast halbiert – durch Zusammenschlüsse und andere Maßnahmen zum Abbau von Überkapazitäten und von Fixkosten für Immobilien und Personal, aber auch durch die gewachsene Konkurrenz von Onlinebanken und die Hinwendung der Kunden zu digitalen Vertriebswegen bei immer mehr Produkten. Präsenz schon reduziertDie Deutsche Bank etwa, die heute in Deutschland ohne Töchter wie die Postbank 740 Filialen betreibt, zählte im Jahr 2000 noch 1 200. Die Commerzbank kürzte ihr Filialnetz nach Übernahme der Dresdner Bank von 1 600 Stellen im Jahr 2009 auf 1 200 drei Jahre später. Auch Sparkassen sowie Volks- und Raiffeisenbanken – die Gruppen mit der größten Flächenpräsenz in Deutschland – haben ihre Netze in den vergangenen Jahren zurückgeschnitten.Doch über einen Kamm scheren lässt sich die Kreditwirtschaft nicht. Einschätzungen, welche Bedeutung Filialen in Zukunft haben werden, fallen unterschiedlich aus. Während die Münchner Unicredit-Tochter HVB vor der zunehmenden Konkurrenz branchenfremder Anbieter wie Google und aufstrebender Start-ups warnt und angekündigt hat, bis Ende 2015 gut 240 ihrer 580 Filialen zusammenzulegen oder zu schließen, hat sich die zum französischen Crédit Mutuel gehörende Targobank vorgenommen, die Zahl ihrer Filialen bis Ende 2017 um 40 auf 400 zu erhöhen. Die Filialpräsenz sei für die Kundengewinnung von größter Bedeutung, so das Urteil – auch wenn heute kaum noch jemand für alltägliche Geschäfte in eine Filiale komme. Kein AuslaufmodellÄhnlich wie die vergleichsweise schlanke Bank aus Düsseldorf argumentieren in der Öffentlichkeit auch führende Vertreter des öffentlich-rechtlichen und genossenschaftlichen Finanzverbundes. Die Filiale gehöre zur Sparkassen-DNA, sie sei kein Auslaufmodell, hieß es 2014. Oder auch: Die Filiale bleibe im Zentrum des Geschäftsmodells der Volks- und Raiffeisenbanken, der zwischenmenschliche Kontakt sei immer noch der Schlüssel zum Erfolg.Doch hinter den Kulissen der dezentralen Gruppen, deren Institute im Schnitt mehr als die ehemalige Citibank aufwenden müssen, um 1 Euro zu verdienen, rumort es. Nicht allen gefällt das Tempo bei der Anpassung an das digitale Zeitalter. Allerdings stehen dem Ruf nach neuen Filialkonzepten oder einem schnelleren Rückbau sich nicht rechnender Filialen Appelle zur Besonnenheit gegenüber. Verwiesen wird auf hohe Investitionserfordernisse und damit verbundene Risiken bei tristen Ertragsaussichten angesichts von Nullzinspolitik und unsicheren Konjunkturperspektiven. Zudem sei der in Filialen generierte Mehrwert verglichen mit filiallosen Direktbanken zu bedenken. Da passt es auch ins Bild, dass vermehrt über den Einsatz rollender Filialen, über Filialsharing mit Betrieben anderer Branchen und über reduzierte Öffnungszeiten nachgedacht wird. Chancen unterschätztDie Verunsicherung in Filialhäusern ist damit zu erklären, dass die mit der Digitalisierung verbundenen Chancen offenbar nicht voll erkannt oder unterschätzt werden und dass die wahrgenommenen Konturen der digitalen Welt, die sich laufend ändert, unscharf sind. McKinsey-Berater machen derzeit weltweit 12 000 Start-ups aus, die in die Domäne der klassischen Banken vordringen wollen. Banken und Sparkassen in Deutschland rätseln jedoch, welche Rolle Apple, Google & Co. als Wettbewerber künftig spielen werden.Klar scheint auf breiter Ebene zu sein, dass Antworten notwendig sind auf Fragen, wie Privat- und Firmenkunden künftig stärker ans eigene Haus gebunden werden können, wie Filial- und Online-Angebote zusammenpassen und wie diese Angebote auf allen Ebenen eng miteinander zu vernetzen sind. Beratungsgesellschaften sprechen vom Omnikanal- oder Cross-Channel-Banking, bei dem es keine Grenzen mehr gibt zwischen Filiale, Serviceberater im Call-Center und Online-Banking. Kunden könnten eher gebunden werden, wenn sie durch größtmögliche Durchlässigkeit der Vertriebskanäle eine bislang nicht gekannte “Konsistenz des Markenerlebnisses” erfahren würden, heißt es. Verzahne eine Bank ihre Kanäle nicht nahtlos miteinander, würden Kunden nach alternativen Angeboten suchen. So verließen sie “das Ökosystem des Kreditinstituts, das damit die Möglichkeit verliert, ein durchgängig positives Kundenerlebnis zu schaffen”, erläutern die Beratungshäuser Eurogroup Consulting und Elaboratum, die sich überzeugt zeigen, dass die Bedeutung des Cross-Channel-Banking weiter zunimmt und zu einer der wichtigsten Herausforderungen für die Kreditinstitute in den kommenden Jahren wird. Skepsis und VorbehalteDie Berater sehen die Bankfiliale als weiterhin bedeutsam an. Im Verlauf der Entscheidungskette von der Erstinformation (45 %) über die Beratung (56 %) bis zum Vertragsabschluss (64 %) gewinne die Filiale an Relevanz. Unterfüttern lassen sich solche Befunde mit Umfrageergebnissen, denen zufolge Angebote aus dem Internet in Deutschland überwiegend skeptisch beurteilt werden. Eine Studie der Targobank, für die 1 000 Bürger befragt wurden, kommt zu dem Ergebnis, dass eine große Mehrheit auf ein Beratungsgespräch vor dem Vertragsabschluss nicht verzichten will, gerade bei komplexeren Vorsorge- und Baufinanzierungsprodukten. Vorbehalte gibt es demnach weiterhin beim mobilen Bezahlen: Während 13 % Angebote wie Girogo, Google Wallet oder Yapital nutzten, lehnten 43 % der Befragten die Nutzung von Apps zum kontaktlosen Bezahlen mit Smartphone oder Kreditkarte ab. Fast drei Viertel halten Zahlungsverfahren über eine bankfremde App der Studie zufolge für unsicher.Doch dürfte der Druck, Filialkonzepte neu zu fassen, für Banken und Sparkassen wachsen, je mehr Zielgruppen sich mit dem digitalen Banking anfreunden. McKinsey verweist darauf, dass nicht mehr nur junge und überdurchschnittlich vermögende Kunden den elektronischen Bankverkehr nutzten, sondern zunehmend auch Kunden aus mittleren Alters- und Einkommensschichten.