Die Finanzbranche und die Kunst, mit Daten umzugehen

Kunstfertigkeit und Kreativität obliegen auch in Zukunft dem Menschen

Die Finanzbranche und die Kunst, mit Daten umzugehen

Kunst vereint handwerkliche Exzellenz mit Kreativität. Genau das sind die Kernkompetenzen der Datengesellschaft im Allgemeinen und der Finanzbranche im Besonderen. Kunst verlangt aber auch Experimentierfreude und Mut. 20 Jahre ist es her, da schrieb der Fachjournalist Frank Puscher das erste deutsche Buch über Online-Kunst. Das Buch “Die Tricks der Internet-Künstler” richtete den Blick auf die Veränderung der Medien, der Kommunikation und der Wissensgesellschaft durch die Veröffentlichung und weltweite Verfügbarmachung großer Datenbanken und durch die Vernetzung aller Netzteilnehmer und Informationsquellen untereinander.Heute beobachten wir den Sonnenaufgang der künstlichen Intelligenz (KI) und wieder stehen große Veränderungen bevor. Während die USA und China einen – stellenweise unreflektierten – euphorischen Blick auf die Möglichkeiten der Technologie haben, scheint in Deutschland die Skepsis zu überwiegen. Viele Menschen haben Angst vor Technologie, die sie nicht verstehen. Sie haben Sorgen um Arbeitsplätze. Sie haben Angst davor, die Kontrolle über Teile des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens an Maschinen abzugeben. Sie haben Angst um ihre Freiheit.Ein bekanntes amerikanisches Magazin erhob jüngst den Vorwurf, KI könne diskriminieren. Die Reporter hatten bei einer Versicherung zwei Policen beantragt. In beiden Fällen waren alle eingegebenen Daten identisch nur beim Vornamen unterschieden sich die Anträge. “Mustapha” sollte eine doppelt so hohe Prämie bezahlen wie “John”.Um solche Probleme zu vermeiden, genügt es nicht, den Kopf mit einem resoluten “weiter wie bisher” in den Sand zu stecken. Es ist wichtig, dass die Gesellschaft und jeder einzelne versteht, wie die KI arbeitet. Nur mit Datenkompetenz können die Steuerungsmechanismen wirken – sei es auf politischer Ebene oder im Unternehmen. Denn längst ist klar, dass intelligente Maschinen die Fähigkeiten dazu haben, auch die großen Probleme der Menschheit zu lindern. Ein US-Reporter befragte eine Handvoll deutscher Krebsspezialisten nach den Möglichkeiten der KI-gestützten Diagnose: Alle haben gesagt, dass die KI in den meisten Fällen inzwischen besser diagnostiziert.Der Schlüssel zu mehr Datenkompetenz liegt in der Bildung. Es geht nicht um das Erlernen von Programmiersprachen – die KI programmiert sich selbst – sondern um das Verstehen der Zusammenhänge und das Suchen nach kreativen Lösungen. Man muss der KI die richtigen Fragen stellen und die Antworten aus den Daten lesen können.Die Umwälzungen der Digitalisierung betreffen jede Branche. Es ergeben sich massive Einsparpotenziale bei Prozessen – man denke an Self-Service-Banking oder an vollautomatischen Wertpapierhandel, der längst beim Endkunden angekommen ist.Zum anderen verändert die Digitalisierung die Customer Journey. Die Online-Recherche verdrängt die Beratung. Die kursorischen beruflichen Lebensläufe bringen die Bewertungssysteme ins Wanken, wenn Freiberuflichkeit und Projektarbeit die regelmäßige Lohnzahlung samt Kündigungsschutz ersetzen. Und das Scheitern wird zum Leistungsmerkmal des Innovators. Aber was sagt die Schufa dazu?Auf diese Veränderungen, die durch das Digitale ausgelöst werden, braucht es Reaktionen. Die Reaktionen müssen nicht notwendigerweise digital sein. Vielleicht ist Start-ups ein vertrauenswürdiger, menschlicher Partner wichtig, wenn sie auf Innovationsjagd gehen.Die etablierten Player der Finanzbranche überlassen dieses Spielfeld in weiten Teilen den Fintechs. Das ist riskant. Zwar kann man funktionierende Start-ups später übernehmen. Aber der Wettbewerb kann das auch. Oder finanzstarke Branchenfremde wittern die Chancen auf Disruption. Wer heute Menschen in der Fußgängerzone befragt, wie sie ihre Online-Einkäufe bezahlen, hört in acht von zehn Fällen: Paypal. Wie konnte das passieren?Die Branche muss lernen, den Menschen besser zuzuhören, statt die Weiterentwicklung aus der Unternehmensperspektive voran zu treiben. Mittels Terminal- und Online-Banking haben die Banken ihre Kosten reduziert. So trugen sie selbst dazu bei, den Kunden selbständiger zu machen. Damit haben sie den Nährboden bereitet für neue Unternehmen wie N26. Einst belächelt, heute ein Synonym für Innovation und Disruption im Bankensektor.Die Trägheit der Finanzbranche kombiniert mit der strengen Regulatorik hat aber auch ihr Gutes. Sie bildet ein stabiles System mit vertrauensbildenden Grundregeln. Und Vertrauen ist der Treibstoff des ökonomischen Motors. Vertrauen ist genauso wichtig, wie Innovation. Das Idealbild eines Finanzunternehmens, das für die digitale Zukunft gerüstet ist, kombiniert also beides: die Stabilität eines vertrauenswürdigen Systems mit der Flexibilität und Geschwindigkeit eines Innovators. Das hört sich nahezu unvereinbar an, ist es aber nicht.Aus anderen Branchen, die in der Digitalisierung weiter fortgeschritten sind, weiß man, dass Innovation schlicht auch dazu dient, bestehende Prozesse einfacher, schneller und kostengünstiger zu machen. Amazon hat durch One-Klick-Checkout und die Versandpauschale Prime zwei Themen optimiert, die es im Versandhandel schon seit hundert Jahren gibt. Und auf diesen beiden Verbesserungen und auf einer guten Empfehlungsmaschine fußt der Anfangserfolg des Versandriesen.Wo liegen im Finanzwesen solche Verbesserungshebel?- Verkürzung der Antragstrecke durch Automatisierung und Biometrie- Erweitertes Risikoscoring jenseits der Kredithistorie- Betrugserkennung und -prävention- Peer-to-Peer-Angebote- Datengestütztes, automatisches Portfoliomanagement- B2B-Produkte auf Blockchain-Basis- und vieles mehrAm Beispiel Peer-to-Peer lässt sich zeigen, wie Disruption funktioniert. Der klassische Weg der Innovation ist: Die Bank bemerkt Bedarf, entwickelt ein Produkt, und knüpft eine Wertschöpfung daran, eine Vermittlungsprovision. Dabei wird eventuell übersehen, dass der Grund des Entstehens von Peer-to-Peer-Anbietern der ist, dass man auf den Vermittler und seine Provision verzichtet, weil man andere Vertrauensmechanismen hat. Das wiederum könnte dazu führen, dass ein großes Unternehmen mit solider Vertrauensbasis auf die Idee kommt, Peer-to-Peer-Kredite kostenlos zu vermitteln. Vielleicht erhebt man ein paar Daten als Gegenleistung oder nutzt das Angebot einfach als Kundenbindungsmaßnahme.Das heraufdämmernde Zeitalter der künstlichen Intelligenz hält also grundsätzlich drei zentrale Aufgaben bereit:1. Wie verändert die Digitalisierung den Kunden und seine Kundenreise, und mit welchen neuen Produkten reagieren Unternehmen darauf?2. Was muss an bestehenden Prozessen und Produkten geändert werden, damit das zum digitalen Kunden passt?3. Hat die Digitalisierung ökonomische und technische Hemmnisse beseitigt, die ganz neue Prozesse und Geschäftsmodelle überhaupt erst möglich machen?Stets spielen Daten die entscheidende Rolle. Finanzinstitute besitzen einen gigantischen Datenschatz, der oft über mehrere Abteilungen verteilt ist. Diesen gilt es zu konsolidieren, um die maximale Ausschöpfung zu erreichen. Sodann führt man in einem “digitalen Sandkasten” Datenexperimente durch. Man entwirft Fragestellungen, lässt die KI rechnen und analysiert die Ergebnisse gemeinsam mit erfahrenen Datenspezialisten. Das geschieht vollkommen risikolos und beeinflusst das Tagesgeschäft nicht. Erst wenn ein Ansatz gefunden wird, der Erfolg verspricht, wird er ins operative Geschäft überführt.Solche Experimente sind nicht nur dazu gedacht, die Algorithmen zu verbessern, sondern vor allem das Zusammenspiel zwischen Mensch und Maschine. Denn letztlich sind Daten und KI nur Werkzeuge. Die Kunstfertigkeit im Umgang damit und die Kreativität bleiben beim Menschen. Auch in Zukunft.—-Dirk Radetzki, Regional Director DACH von Bisnode