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Die Finanzwirtschaft treibt Europas Wirtschaftswachstum

Börsen-Zeitung, 21.8.2015 Der Befund lässt aufhorchen: Kurzfristig kann weiteres Kreditwachstum die Wirtschaft durchaus antreiben, langfristig jedoch sind die Effekte negativ, konstatiert die Studie "Finance and Inclusive Growth" der OECD. Das...

Die Finanzwirtschaft treibt Europas Wirtschaftswachstum

Der Befund lässt aufhorchen: Kurzfristig kann weiteres Kreditwachstum die Wirtschaft durchaus antreiben, langfristig jedoch sind die Effekte negativ, konstatiert die Studie “Finance and Inclusive Growth” der OECD. Das verblüffte die Finanzwelt und bestätigte die Befürworter einer Verkleinerung des Finanzsektors. Doch was genau wurde da untersucht? Untersucht wurde das Kreditwachstum in den OECD-Ländern zwischen 1961 und 2011. Die Analyse ergibt: Steigt das Kreditvolumen an Privathaushalte und Unternehmen um 10 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP), wirkt sich das um 0,3 Prozentpunkte negativ auf das jährliche Wirtschaftswachstum aus. Das ist plausibel, hat doch das erhebliche Kreditwachstum vor der Finanzkrise und der darauf folgende Einbruch gezeigt, wie eine übermäßige Kreditvergabe die Auf- und Abschwungphasen im Konjunkturzyklus verstärken und das langfristige Wachstum verlangsamen kann. Ein Musterbeispiel dafür gibt Spanien: In den nur fünf Jahren von 2003 bis 2007 wuchs dort das ausstehende Hypothekenvolumen um knapp 280 % – der Rest ist Geschichte. Kreditvergabe stagniertDaraus zu schließen, das Kreditwachstum müsse als solches eingeschränkt werden, hieße jedoch das Kind mit dem Bade ausschütten. Um zu wachsen, ist die Wirtschaft eines jeden Landes auf gesundes Kreditwachstum angewiesen. Derzeit ist eher das Gegenteil der Fall: In Deutschland etwa stieg das Kreditvolumen 2014 um gerade einmal 31 Mrd. Euro – und damit um kaum mehr als 1 % des BIP. Auch in Frankreich schwankt die Entwicklung des Kreditvolumens seit 2010 um die Null-Prozent-Linie, in Spanien war die Kreditvergabe 2014 noch leicht rückläufig. Die OECD beschreibt in ihrer Studie also ein Problem, das so derzeit nicht existiert. Aufschlussreiche PwC-StudieVielmehr fehlt es heute an den positiven Effekten der Kreditvergabe. Immerhin verweist auch die OECD explizit auf zahlreiche positive Wachstumsbeiträge der Finanzwirtschaft. Dazu gehören die Finanzierung von Investitionen, die Förderung von Innovation und das mit der Fremdfinanzierung einhergehende professionellere Controlling von Investitionen. Zweifellos auch die Förderung des internationalen Handels. Und nicht zuletzt wirkt die Kreditvergabe für die EZB als wesentlicher Transmissionsriemen ihrer Geldpolitik in die Realwirtschaft. Die derzeitige Störung dieses Mechanismus gehört zu den wesentlichen Gründen der extrem expansiven Geldpolitik im Euroraum. Das zeigt: Eine höhere Kreditvergabe ist politisch dringend erwünscht.Die OECD nennt unter anderem die “Too-big-to-fail”-Problematik als Grund, warum übermäßige Kreditvergabe das Wirtschaftswachstum gefährden kann. Denn damit einher gehe eine wachsende Anfälligkeit für Krisen und deren internationale Ansteckung. Doch in den Jahren seit der Finanzkrise wurde dieser Sorge Rechnung getragen – mit einer bis heute anhaltenden Dynamik in der Banken- und Finanzmarktregulierung.Das Problem von heute beleuchtet die PwC-Studie “Where Next Europe: the Future of European Financial Services”. In zwei Szenarien untersucht PwC darin die Einflüsse unterschiedlichen Wachstums im Finanzsektor. Zieht die OECD in ihrer Beurteilung lediglich das Kreditwachstum bezogen auf das BIP heran, so stützen sich die Erkenntnisse der PwC-Studie auf das Wachstum des europäischen Finanzsektors und seiner Dienstleistungen insgesamt. Im ersten Szenario geht PwC von einem jährlichen Wachstum um 1,9 % aus. Im Ergebnis wächst die Wirtschaft in einem Zeitraum von 15 Jahren um 1,8 %. Betrachtet man den gleichen Zeitraum mit einem Wachstum des Finanzsektors von nahezu null Prozent, büßt die europäische Wirtschaft 0,3 Prozentpunkte ihres Wachstums ein.Konkret bedeutet dies, dass ein stagnierender Finanzsektor maßgebliche negative Auswirkungen auf die europäische Wirtschaft hat. Der Unterschied der EU-Bruttowertschöpfung zwischen beiden Szenerien liegt nach 15 Jahren bei 850 Mrd. Euro, und die Differenz bei der Anzahl der Arbeitsplätze bei knapp elf Millionen. Risiko fehlenden WachstumsDiese erheblichen Unterschiede gründen sich auf Nachfrage- und in Finanzierungseffekten. So summiert sich die jährliche Nachfrage des Finanzsektors in anderen Branchen auf jährlich 316 Mrd. Euro. Auch die Finanzierungseffekte sind erheblich, wie etwa ein Blick auf die Immobilienbranche zeigt, für die die Fremdfinanzierung ein ganz wesentliches Element bei der Kalkulation und Umsetzung von Projekten ist. Der Unterschied in der Bruttowertschöpfung beträgt in der PwC-Rechnung auf 15 Jahre gesehen 118,9 Mrd. Euro, der Unterschied bei den Arbeitsplätzen liegt bei 161 000.Vor diesem Hintergrund sollte auch die Frage nach wirkungsvoller und angemessener Regulierung diskutiert werden. So brachte es der EU-Finanzmarktkommissar Jonathan Hill auf dem diesjährigen Frankfurt Finance Summit auf den Punkt: “Regulierung war notwendig, um die Gefahren für die Finanzstabilität in der Krise einzudämmen. Aber heute gibt es ein neues Risiko für die Finanzstabilität, und zwar den Mangel an Jobs und Wachstum. Es ist also an der Zeit, die Auswirkungen der Regulierung zu überprüfen.”Hill sagt damit nichts anderes, als auch die Studie von PwC zeigt: Würde der Finanzsektor statt wie derzeit zu stagnieren um 1,9 % wachsen, würde dies der europäischen Wirtschaft ein zusätzliches Wachstum von 0,3 Prozentpunkten bescheren. Dabei ist es freilich wichtig, an die Warnung der OECD zu erinnern, sollte es erneut zu exzessiven Kreditblasen kommen. Doch werden dort heute die Geister der Vergangenheit beschworen und nicht die Herausforderungen der Gegenwart angegangen.—-Dr. Lutz Raettig ist Sprecher des Präsidiums von Frankfurt Main Finance e. V.In dieser Rubrik veröffentlichen wir Kommentare von führenden Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus Politik und Wissenschaft.——–Von Lutz RaettigUm zu wachsen, ist die Wirtschaft eines jeden Landes auf gesundes Kreditwachstum angewiesen.——-