Digitalisierung der Finanzindustrie steht erst am Anfang

Aktuelle und künftige Entwicklungslinien - Bereits jetzt zeichnen sich fundamentale Änderungen ab

Digitalisierung der Finanzindustrie steht erst am Anfang

Im Mai 2015 berief das National Economic Council des Präsidenten der USA erstmals eine Arbeitsgruppe ein, die die Zukunft des “United States Banking and Financial Services Ecosystem” vor dem Hintergrund der Entwicklungen im Bereich “Fintech” (Financial Technology) diskutieren soll. Zuvor analysierte die Bank of England die Auswirkungen kryptografischer Währungen, wie zum Beispiel Bitcoin, auf das Finanzsystem, und die Finanzaufsicht des Gliedstaates New York, das Department of Financial Services (DFS), erließ ein umfassendes Regelwerk für Unternehmen, die mit digitalen Währungen handeln.Die aktuellen Ereignisse belegen die Relevanz der Digitalisierung der Bankindustrie und deuten Entwicklungslinien in drei Bereichen an. Eine erste sind Fintech-Start-ups, die innovative Lösungen weltweit und in großer Zahl entwickeln. Eine zweite sind Banken, die ihr Innovationsmanagement an die geänderten Rahmenbedingungen anpassen und beachtliche Investitionen in Fintech tätigen. Schließlich betrifft eine dritte Linie die Entstehung von Fintech-Initiativen an bedeutenden Finanzplätzen. Fintechs bieten Lösungen anIm Rahmen der ersten Entwicklungslinie bieten inzwischen mehrere Tausend innovative Fintech-Start-up-Unternehmen weltweit Lösungen für die Finanzindustrie an. Dabei hat sich einer Studie von Accenture zufolge die Investitionssumme von knapp 2 Mrd. US-Dollar in 2010 auf 12,21 Mrd. Dollar in 2014 in nur vier Jahren mehr als versechsfacht. Der hohen Marktdynamik folgt zugleich eine hohe Heterogenität der einzelnen Ansätze. Diese unterscheiden sich mindestens in fünf Gestaltungsbereichen. Ein erster betrifft den bankfachlichen Anwendungsbereich, wobei sich die meisten Fintech-Start-ups häufig auf einen der Sektoren Zahlen, Anlegen, Finanzieren oder Beraten konzentrieren. Beispiele sind etwa mobile Bezahllösungen oder Social-Trading-Lösungen für den Anlagebereich.Ein zweiter Ansatz tangiert das adressierte Kundensegment. Beispiele sind Anwendungen für Peer-to-Peer-Lending im Retail Banking oder elektronische Marktplätze für Unternehmensfinanzierungen für das Corporate Banking. Eine dritte Unterscheidung betrifft die Interaktionsform, bei der etwa Community-Banking-Ansätze für den Customer-to-Customer-Bereich (C2C-Bereich) oder Online-Portfolio-Management-Ansätze für den Business-to-Customer-Bereich (B2C-Bereich) anzutreffen sind. Viertens unterscheiden sich die Ansätze hinsichtlich ihrer Positionierung gegenüber Banken. Eine erste Form sind von Banken selbst angebotene Lösungen wie etwa Personal-Finance-Management-Systeme, während ein zweiter Typ auf kooperative oder konkurrierende Angebote gegenüber Banken fokussiert. Einteilung in “Make” or “Buy”Als zweite Entwicklungslinie reorganisieren viele Banken derzeit ihr Innovationsmanagement. Ähnlich wie bei den Fintech-Ansätzen gibt es auch hier eine Vielzahl von unterschiedlichen Herangehensweisen, die sich in die zwei Kategorien “Make” or “Buy” einteilen lassen. Ein erster Vertreter der “Make”-Kategorie sind Open-Innovation-Plattformen, wie zum Beispiel das sLAB der Ersten Bank in Österreich. Diese Plattformen ermöglichen den direkten Austausch mit Kunden im Rahmen der Entwicklung neuer Produkte und Services. Als zweiter Ansatz sind die derzeit von zahlreichen Banken initiierten Innovationslabore zu nennen. Beispiele hierfür sind etwa das ING Innovation Center in Amsterdam, die Innovation Labs der UBS in Zürich, London und Singapur oder die gemeinsam mit IBM, Microsoft und HCL Technologies geplanten Labore der Deutschen Bank in Berlin, London und Palo Alto.Drittens fallen in diese Kategorie die von Banken durchgeführten Hackathons, bei denen Softwareentwickler zu mehrtägigen Veranstaltungen, zum Beispiel in die genannten Innovationslabore, eingeladen werden und eine Jury die besten Lösungen mit Preisen prämiert. In die zweitgenannte “Buy”-Kategorie fallen Venture-Capital-Fonds, wie sie beispielsweise Banco Santander über 100 Mill. Euro und HSBC mit 200 Mill. Euro jüngst aufgelegt haben, um direkte Investitionen in Fintech-Start-ups zu tätigen. Auch der main incubator der Commerzbank zielt auf die Beteiligung an Start-ups und deren Lösungen ab. Ein zweiter Ansatz in dieser Kategorie sind von mehreren Banken getragene Accelerators. Ein Beispiel für diese Kategorie sind die von Accenture betriebenen Fintech Innovation Labs in London, New York und Hongkong. Bei diesem Typ agieren mehrere Banken als Mentoren von Fintech-Start-ups, um diese in der Entwicklung ihrer Lösungen zu unterstützen. Einen ähnlichen Mentorenansatz verfolgt in Deutschland beispielsweise Rocket Internet.Als dritte Entwicklungslinie zeichnet sich derzeit die Herausbildung institutionalisierter Fintech-Initiativen von Städten ab. Beispiele sind Innovate Finance in London oder Fintech.hk in Hongkong sowie entsprechende Initiativen in New York, Singapur, Sydney und Zürich. Das deutsche Finanzzentrum in Frankfurt hat aktuell keine konzertierte Initiative lanciert, stattdessen verteilen sich die Fintech-Initiativen auf das gesamte Land mit einer Konzentrationstendenz in Berlin. Die einzelnen Initiativen unterscheiden sich noch hinsichtlich ihrer Koordination, die im Falle von London bereits zentral und im Falle von Hongkong noch eher dezentral angelegt ist, wobei auch hier Strukturen im Aufbau sind.London bietet beispielsweise für Start-ups mit dem Level39 im Gebäude der Canary Wharf Büroräume und Infrastruktur sowie Zugang zum Know-how von Bankenvertretern. Ein ebensolches Vorgehen weisen auch Sydney mit dem Stone & Chalk sowie New York mit der Plattform WeWork auf. Ein noch weitergehender Ansatz ist in der Schweiz mit dem “Swiss FinTech Innovation Lab” zu beobachten, der zusätzlich eine Verzahnung mit der Wissenschaft vorsieht und eine Verlängerung der Innovationswertschöpfungskette bis in die Hochschulen hinein anstrebt. Der Nutzen dieses Ansatzes ist nicht nur die Erhöhung der Anzahl an Start-ups im Fintech-Bereich durch die Verwertung innovativer Forschungsergebnisse analog zu Stanford im Silicon Valley oder dem MIT an der Ostküste der USA, sondern zusätzlich eine Reduktion des entstehenden Vakuums an ausgebildeten Fachkräften im Fintech-Bereich. Konkret sind hierbei neue Fintech-Professuren, Fintech-Forschungszentren sowie Fintech-Hochschulprogramme geplant.Die drei beschriebenen Entwicklungslinien skizzieren die künftige Richtung zwar erst ansatzweise, deuten aber darauf hin, dass es sich dabei nicht um einen kurzfristigen “Hype”, sondern eher um einen langfristigen Trend handelt. Die hohen Investitionen der Risikokapitalgeber, der Banken und der Städte untermauern diese Beobachtung. Kopie bestehender AnsätzeEntlang der drei skizzierten Linien lässt sich auch die zukünftige Ausrichtung zumindest grob projizieren. Erstens ist bei den Fintech-Start-ups erkennbar, dass viele Lösungen für den Bankbereich häufig bereits bestehende Ansätze kopieren beziehungsweise sich nur minimal von diesen unterscheiden. Der hohen Anzahl an Neugründungen könnte demnach schon bald eine Konsolidierungswelle vor allem von auf den B2C-Bereich fokussierten Lösungen folgen. Zudem scheint auch der Markt für Konkurrenzangebote gegenüber den Banken begrenzt, weshalb viele dieser Unternehmen Kooperationen mit Banken anstreben und von ihrem ehemals auf den B2C-Bereich konzentrierten Angebot auf den Business-to-Business-Bereich (B2B-Bereich) umschwenken. Noch großes PotenzialUmgekehrt besteht im B2B-Bereich eine Vielzahl an noch nicht beleuchteten Bereichen, wie zum Beispiel im Risikomanagement, die noch großes Potenzial aufweist. Daneben bilden sich aktuell zahlreiche innovative Lösungen für den Versicherungsbereich (Insuretech) heraus, der für die Zukunft noch enorme Möglichkeiten verspricht. Zweitens erfordern die Entwicklungen von den Banken eine klare künftige Positionierung. Nur wenige Unternehmen waren in der Vergangenheit dazu in der Lage, neue Geschäftsmodelle neben ihrem angestammten Geschäft aufzubauen. Viele Beispiele aus anderen Branchen, wie etwa der Reise- oder Musikindustrie, belegen diesen Umstand. Innovationen sollten daher viel stärker statt auf inkrementelle Produkt- auf radikale Geschäftsmodellinnovationen fokussieren.Drittens erfordert die Digitalisierung der Bankindustrie auch von den Finanzplätzen eine klare Positionierung, wobei hier derzeit nur eine erste Schwerpunktbildung ablesbar ist. So investiert beispielsweise New York vor allem in B2B-Lösungen für das Investment Banking, während Zürich insbesondere auf Ansätze im Bereich des Wealth Management setzt. Neben dieser Schwerpunktbildung scheint die Vernetzung der Finanzplätze untereinander eine zusätzliche Herausforderung für die Zukunft darzustellen. Blockchain-TechnologieObwohl bereits jetzt erhebliche Veränderungen in der Finanzindustrie absehbar sind, befindet sich die Digitalisierung erst am Anfang eines langen Transformationsprozesses. Viel fundamentalere Veränderungen zeichnen sich jedoch bereits jetzt ab. So ermöglichen verteilte, im Internet öffentlich einsehbare Transaktionsbücher (sogenannte Distributed Ledgers), wie beispielsweise solche auf Basis der Blockchain-Technologie, erstmals eine Authentifizierung und Validierung von Transaktionen ohne Einbindung von (Finanz-)Intermediären. Die durch die virtuelle Bitcoin-Währung bekanntgewordene Technologie ist dabei allerdings losgelöst von dieser zu betrachten, wobei der Technologie das größere Potenzial zuzurechnen ist als der Währung selbst. Denn diese ermöglicht völlig neue Anwendungen für alle privatwirtschaftlichen und öffentlichen Bereiche, wie beispielsweise Peer-to-Peer-Zahlungen oder elektronische Verträge im Versicherungsbereich, die direkt zwischen Privatpersonen geschlossen werden können, ohne dass hierfür ein Unternehmen notwendig wäre, das die beteiligten Personen authentifiziert und die Vertragsinhalte validiert. Software statt IntermediärDiese Aufgabe übernimmt in diesem Fall statt dem Intermediär die Software selbst. In derselben Weise, wie ehemals das Internet zur Demokratisierung von Informationen beitrug, verfügt diese Technologie nun erstmals über das Potenzial, eine sichere dezentrale Abwicklung von Informations- und Leistungsflüssen um Finanzflüsse zwischen Akteuren über das Internet zu ergänzen und damit das globale Finanzsystem zu demokratisieren. Dieser Ansatz überwindet die letzte Hürde einer weltweit vernetzten Leistungserstellung von Unternehmen in digitalen Wertschöpfungssystemen. Die Wirtschaft und die Wissenschaft sind daher gefordert, gemeinsam Lösungsansätze und den damit einhergehenden Transformationsprozess zu skizzieren. Die genannten Fintech-Initiativen könnten hierzu einen entscheidenden Beitrag leisten.—Thomas Puschmann, Kompetenzzentrumsleiter am Business Engineering Institute St. Gallen