Durch Wandlungsfähigkeit zeitlos modern

Nähe 2.0 - Wie Genossenschaften im "Ländle" der Tüftler und Erfinder ihren Förderauftrag auch digital umsetzen

Durch Wandlungsfähigkeit zeitlos modern

Sinn und Zweck einer jeden Genossenschaft ist die Förderung der Mitglieder. Nah am Mitglied und Kunden zu sein, war, ist und bleibt eine der Daseinsberechtigungen von Unternehmen in der Rechtsform der eingetragenen Genossenschaft (eG). Genossenschaften durchleben wie alle Unternehmen den digitalen Wandel. Die Digitalisierung hat innerhalb einer einzigen Generation das private und geschäftliche Leben komplett umgekrempelt, und man kann sich kaum vorstellen, welche immense Menge an neuer und immer wieder neuartiger Software dafür entwickelt werden musste. Hatte unsere bisherige analoge “Hardware”-Welt mehr als tausend Jahre Zeit, um den heutigen Stand zu erreichen, so waren es gerade einmal 25 Jahre für die Software von heute.Wie war das möglich? Interessanterweise hat die Digitalisierung selbst dazu beigetragen, dass sich die Digitalisierung so rasch entwickeln konnte; denn nur durch die international organisierte und vernetzte Zusammenarbeit von Software-Entwicklern – eben mit Hilfe der Digitalisierung selbst – konnte diese erstaunliche Leistung erbracht werden. Zum Erlebnis machenDie Herausforderung unserer Gruppe ist die Transformation genossenschaftlicher Stärke in die digitale Welt. Dabei kommt dem Baden-Württembergischen Genossenschaftsverband die Verantwortung der Umsetzungsbegleitung zu. Für die baden-württembergischen Volksbanken und Raiffeisenbanken etwa ist es entscheidend, die Omnikanal-Zugangswege für die Mitglieder und Kunden zu einem Erlebnis zu machen. Wohin die Reise bei der Digitalisierung für das Bankgeschäft voraussichtlich geht, verdeutlicht die radikal klingende Aussage, dass Finanzdienstleistungen in Zukunft vor allem Apps sind. Allerdings keine Apps im herkömmlichen Verständnis als einfache Bankfunktionalitäten. Vielmehr werden die Kunden auf der Grundlage komplexer und umfassender Datenanalysen höchst individuell digital und automatisiert beraten.Es sind drei wesentliche Handlungsfelder, die zu bearbeiten sind: Datenanalyse und Kundeninformationssysteme müssen grundlegend verbessert werden. Die digitale Markenführung gilt es zu optimieren. Das Innovationsmanagement muss intensiviert und an Ideen von Wettbewerbern und Fintechs angedockt werden. Auf allen drei Handlungsfeldern sind die Volksbanken und Raiffeisenbanken sehr gut unterwegs. Die Genossenschaftsbanken profitieren von der Stärke der genossenschaftlichen Finanzgruppe, in der Methoden vom “Design Thinking” über Kreativlabore bis zu Hackathons erfolgreich angewendet werden. Die Zielsetzung dabei ist klar umrissen: Das Mitglied und der Kunde müssen auch weiterhin “ihre” Genossenschaftsbank als Institution für persönliche Nähe und individuelle Beratung wahrnehmen. Konkrete BeispieleFür die Genossenschaften des Handels, des Handwerks und der Dienstleistungsbranchen kann die Entwicklung an zwei konkreten Beispielen aufgezeigt werden. Partielle Offenheit ist das Geschäftsfeld einer hochinnovativen Genossenschaft namens Open Source Automation Development Lab (OSADL).Erfolgreiche Software-Projekte sollten offensichtlich nicht im Block von einem einzigen Unternehmen entwickelt, sondern das jeweilige Projekt muss in einzelne Schichten zerlegt werden. Die unteren Schichten wie zum Beispiel Netzwerkprotokolle, deren freie Verfügbarkeit von allgemeinem Interesse ist und die keine Bedeutung für den Wettbewerb haben, müssen gemeinsam entwickelt werden, während die oberen Schichten, sozusagen das “Gesicht” der Software, vom jeweiligen Anbieter proprietär entwickelt werden. Dieses Prinzip wird allgemein “Open Innovation” genannt. Es ist erfolgreich, weil es ökonomisch erfolgreich ist.Natürlich funktioniert die gemeinsame Software-Entwicklung nicht einfach automatisch, sondern es wird eine Organisation dafür benötigt – am besten innerhalb von Branchen und an einem Ort, an dem viele Spezialisten beheimatet sind, die ein besonderes Interesse am Thema haben. Für die Digitalisierung in der Industrie im Allgemeinen und in der Automatisierungsindustrie sowie im Automobilbau im Besonderen war es daher naheliegend, die entsprechende Organisation in Baden-Württemberg zu gründen.Und genau dort, nämlich in Heidelberg, ist das Open Source Automation Development Lab tätig und organisiert die gemeinsame Entwicklung und Nutzung von Software, die alle brauchen. Unternehmen, die verstanden haben, dass die Parallelentwicklung dieser Komponenten ein ökonomischer Unfug wäre, werden Mitglied der Organisation und profitieren von der gemeinsamen Software-Entwicklung und vielen damit verbundenen Leistungen. Auf seine Weise profitierenWeltfirmen, Mittelstand und Ingenieurbüros unter einem Dach: Mitglieder der OSADL eG sind zum Beispiel amerikanische und japanische Weltfirmen wie Intel und Hitachi, mittelständische in Baden-Württemberg beheimatete Weltmarktführer wie Homag und Trumpf, aber auch Ingenieurbüros mit wenigen Mitarbeitern. Offensichtlich profitieren alle auf ihre Weise vom Prinzip “Open Innovation”.Bei der Gründung der OSADL eG war klar, dass das Geschäftsmodell auf “Open Innovation” beruht – man wollte also etwas tun, was nur viele gemeinsam vermögen, dem Einzelnen aber nicht möglich ist. Diese Idee, so neu sie auch klingen mag, ist aber schon über 150 Jahre alt und stand auch bei der Entwicklung der Rechtsform der eingetragenen Genossenschaft Pate. Daher ist es nicht verwunderlich, dass OSADL seit zehn Jahren als eingetragene Genossenschaft firmiert.Aber Digitalisierung ist kein Allheilmittel; denn jede Zusammenarbeit von Menschen miteinander erfordert immer auch ein bestimmtes Maß an Vertrauen, das mit digitalisierter Kommunikation allein nicht vermittelt werden kann. Und eben aus diesem Grunde hat sich die Rechtsform der eingetragenen Genossenschaft als Glücksgriff erwiesen. Die enorme Effizienz von OSADL wird durch die Methoden der Digitalisierung erreicht, die kreative und vertrauensvolle Zusammenarbeit der Teilnehmer verdankt die Organisation ihrer Rechts- und Unternehmensform.Ebenso verhält es sich bei der Hagos eG. Von Stuttgart aus handelt das genossenschaftliche Marktführer-Unternehmen mit einer Marktabdeckung von 65 % in Deutschland für ihre Mitglieder, die Kachelofenbauer in Deutschland und Österreich, mit knapp 30 000 Produkten. Die Genossenschaft hat eine Anwendung aus der Taufe gehoben, die es dem einzelnen Mitglied, dem Handwerksbetrieb, ermöglicht, online die relevanten Produkte aufzurufen, zu schauen, ob und wo diese auf Lager sind, zu bestellen und dem Endkunden vor Ort eine Grobeinschätzung des Aufwands und der Kosten zu kommunizieren.Diese Hagos-App ist für den Desktop, das Tablet und das Smartphone konfiguriert. Zudem verfügen Hagos-Mitglieder über einen geschützten Zugang zum firmeninternen Online-Portal, in dem sie auch Berechnungen und Statistiken erstellen, elektronisch Post versenden und Daten herunterladen können. Bei der Ofenplanung unterstützt den Handwerker eine Hagos-eigene Software. Dieses elektronische Werkzeug berechnet in der Hauptsache, ob der vorhandene Schornstein und der geplante Ofen miteinander betrieben werden können. Alle diese digitalen Helferlein sorgen für Schnelligkeit, sparen Zeit und damit Geld – Geld des Hagos-Mitglieds. Damit schafft die Genossenschaft einen Mitgliedernutzen und erfüllt ihren Förderauftrag mithilfe digitalisierter Prozesse.Dieses weitere Beispiel des Denkens vom Mitglied und Kunden her ist Bestandteil der genossenschaftlichen DNA. Dieser Wert beinhaltet im Kontext des digitalen Wandels die Bereitschaft für Veränderung. Auf diesem Feld hatten es Genossenschaften bereits im vorvergangenen Jahrhundert geschafft, auf Grundlage der Ideen der Gründerväter Friedrich Wilhelm Raiffeisen und Hermann Schulze-Delitzsch gesellschaftliche Veränderungen zu bewältigen: mit den Grundsätzen Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung. Die meisten MitgliederGenossenschaften sind zeitlos modern, auch und gerade durch ihre Wandlungsfähigkeit. Dies gilt für die Genossenschaften im Flächenindustrieland Baden-Württemberg in besonderem Maße. Das “Ländle” der Tüftler und Erfinder weist nicht von ungefähr bundesweit die größte Dichte an Genossenschaften mit der höchsten Zahl an Mitgliedern auf. Mit beinahe 3,9 Millionen Menschen ist mehr als jeder dritte Baden-Württemberger Mitglied in mindestens einer Genossenschaft.—Roman Glaser, Präsident, Vorstandsvorsitzender des Baden-Württembergischen Genossenschaftsverbands