Eine Idee soll leben

Von Jan Schrader, Frankfurt Börsen-Zeitung, 3.12.2016 Was haben deutsche Genossenschaften mit Merengue-Tänzern der Dominikanischen Republik, mit Karnevalsjecken in der französischen Küstenstadt Granville, mit Taucherinnen auf der koreanischen...

Eine Idee soll leben

Von Jan Schrader, FrankfurtWas haben deutsche Genossenschaften mit Merengue-Tänzern der Dominikanischen Republik, mit Karnevalsjecken in der französischen Küstenstadt Granville, mit Taucherinnen auf der koreanischen Vulkaninsel Jejudo oder mit den Bewahrern von Schriftsystemen in Georgien gemeinsam? Sie alle frönen Traditionen, die aus Sicht der Vereinten Nationen zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit zählen. Mitte der vergangenen Woche übernahm die zuständige Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur, die Unesco, die Idee der Genossenschaften samt zehn weiterer Brauchtümer auf die Repräsentative Liste. Die Idee, die sich vor anderthalb Jahrhunderten in Deutschland ausbreitete, soll somit sichtbar gemacht, geachtet und in ihrer Bedeutung anerkannt werden, wie es Artikel 16 der Konvention zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes vorschreibt.Die Begeisterung über die Genossenschaften scheint auch in den Reihen der Vereinten Nationen seither groß zu sein: Zum Erbe von Hermann Schulze-Delitzsch und Friedrich Wilhelm Raiffeisen, den beiden Sozialreformern und Urvätern der Genossenschaften in Deutschland und im nahen Ausland, ist ein Werbefilm auf dem Internetportal der Unesco zu finden. “Genossenschaften sind für alle ein Gewinn”, sagt ein Sprecher, verkleidet als Schulze-Delitzsch. “Wir sind keine Aktiengesellschaft, für die der Profit alles ist. Wir Genossenschaften sind nur unseren Mitgliedern verpflichtet.”Die deutsche Unesco-Kommission hatte die Genossenschaftsidee bereits 2014 auf ihre bundeseigene Liste als immaterielles Kulturerbe aufgenommen, ähnlich wie auch die deutsche Brotkultur, die Flößerei, sächsische Knabenchöre, das Schützenwesen, die manuelle Fertigung von mundgeblasenem Hohl- und Flachglas und – natürlich – den rheinischen Karneval mit all seinen lokalen Varianten. Bis auf die Jagd mit dressierten Greifvögeln, der Falknerei, die auch in einigen anderen Ländern praktiziert wird, schaffte es aber bisher keines der deutschen Brauchtümer neben der Genossenschaftsidee auf die begehrte internationale Liste.Die deutsche Kommission lobt das Konzept einer “Vereinigung mit nicht geschlossener Mitgliederzahl und gemeinschaftlichem Geschäftsbetrieb, die individuelles Engagement und Selbstbewusstsein stärkt und soziale, kulturelle und ökonomische Partizipation ermöglicht”. Die Deutsche Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen-Gesellschaft und die Hermann-Schulze-Delitzsch-Gesellschaft hatten die Nominierung vorangetrieben. Die Idee soll leben. Der Wandel prägtDabei haben die Genossenschaften heute mit den ursprünglichen Organisationen, die aus der Not heraus gegründet worden waren, nur noch wenig gemeinsam. Die Kreditgenossen bekommen das deutlich zu spüren: Die Zahl der lokalen Banken geht immer weiter zurück. Seit dem Schulterschluss zwischen den Volksbanken und Raiffeisenbanken Anfang der 1970er Jahre gab die Zahl von damals mehr als 7 000 auf heute rund 1 000 nach. Gleichzeitig festigten sich bundesweite, konzernähnliche Strukturen. Jüngst verschmolzen die Kreditgenossen ihre Spitzeninstitute und IT-Dienstleister, der Fusionstrend setzt sich auch bei regionalen Banken fort, und längst beziehen die Institute etliche Finanzprodukte wie Bausparverträge, Fonds, Versicherungen und Konsumkredite von ihren zentralen Anbietern. Konzernstrukturen haben sich auch im Ausland herausgebildet, etwa im Fall der Crédit Agricole in Frankreich, der Rabobank in den Niederlanden oder der Raiffeisen Zentralbank in Österreich. Der Wandel prägt die Kreditgenossen.Der Film der Unesco betont die Bedeutung der Genossenschaften zur Zeit der Bauernbefreiung und der Industrialisierung, als Armut auch hierzulande noch allgegenwärtig war. Mit den modernen Genossenschaften in einer reifen Marktwirtschaft haben die ersten Zusammenschlüsse aber nur noch wenig gemeinsam. Und doch prägt die Tradition die Genossen bis heute. Die Idee, als einfacher Kunde Teil einer Organisation zu sein, gleichberechtigt neben anderen Menschen – sie ist angesichts von mehr als 18 Millionen Mitgliedern allein bei den deutschen Genossenschaftsbanken identitätsstiftend. Die Idee lebt, auch ohne Unesco. ——–Die Unesco zählt die Genossenschaftsidee zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit.——-